Wer so durch die Toskana spaziert, begreift, warum so viele Leute von einem Häuschen aufdiesem Flecken Erde träumen. Und plötzlich ein böses Erwachen: Die Zeit reicht nicht mehr, um bis Sizilien zu wandern.
Eine wunderbare Nacht – der ganze Waldboden eine riesige Matratze, voller kreuchender und fleuchender Viecher zwar, aber weich und das Nadeldach so dicht, dass die grelle Morgensonne gar nicht durchkam. Ich dachte, dass Siena ein nächstes Ziel sein könne, verwarf den Gedanken aber, denn auf solchem Weg käme ich erst recht in die motorisierten Touristenströme. Dann eben Arezzo. Es dürfte zwar auch zünftig Touristen haben dort, aber ich hatte plötzlich Lust in einem der Museen die hübschen Etrusker-Figürchen anzusehen. Sie sehen aus wie Vorfahren von Giacometti-Figuren. Jedenfalls hatte ich das von einem früheren Besuch her so in Erinnerung. Nun wollte ich sehen, ob ich mir das richtig eingeprägt habe.
So bin ich den recht unbeschwert durch diese toskanische Landschaft am Rande des Chianti spaziert, bin gegen fünf in Figline angekommen, von Greve her an Castelli vorbei, wo Franzosen und Deutsche den Wein in Kartons direkt beim Produzenten kaufen. Eine schöne Landschaft, wirklich unglaublich schön und überall diese geschmackvoll renovierten Ferienhäuser, diese Rusticci, Landhäuser, meistens mit geschlossenen Läden, obwohl jetzt Ferienzeit ist. Bin in dieses Figline hineingewandert, hab auch tatsächlich ein Schild mit einem Bett gesehen, doch es wies zum Spital. Das nächste zum Altersheim.
Auf der Piazza von Figline
Und dann kam ich auf eine Piazza, umgeben von alt gewordenen Häusern, im Erdgeschoss entweder ein Coop, ein Coiffeur, eine Papeterie, Bar und Bar und Bar – ich kam da auf die Piazza, in kurzen Hosen, Trägerleibchen, verschwitzt und fragte jemanden, ob es ein Albergo gäbe. Auf der Piazza, sagte er und ich dachte, ich sei auf der Piazza. «Wo ist die Piazza?» fragte ich. «Hier», sagte er schelmisch, und so schaute ich mich um und sah ein verfallendes Haus mit einem Wirtshausschild. Ich zog mich um, trat ein und fragte nach einem Zimmer. Ein junger Bursche sagte, ich solle in fünfzig Minuten wieder kommen.
Tische, Stühle auf der Piazza. Ich bestellte ein Glas Wasser und setzte mich so, dass ich den Eingang zum Albergo im Auge hatte. Dass mir ja kein Deutscher zuvorkomme. Ging wieder hinein nach einer halben Stunde, durch einen Gang in dem tausend Flaschen Wein standen, und ich übertreibe nicht: es waren mehr als tausend Flaschen. Aber ich sag jetzt mal tausend. Und da stand ein neuer Mann, das war der Chef. Er sagte mir, dass alles besetzt sei. Kein Zimmer, kein Bett. Und ich erklärte, dass ich nur ein Dach über dem Kopf wolle, keinen Luxus, denn es schien mir, sein Nein sei nicht so wahnsinnig definitiv.
Er hatte ein Riesenchaos auf seinem Tisch, schaute wichtig in sein Buch und fand irgendetwas heraus. Ich solle mitkommen. Wir stiegen zwei Treppen hoch, er steckte einen Schlüssel ins Schloss, drehte ungeduldig daran, und die Tür sprang auf: Erschreckt schoss ein Paar in einem Bett auf, zog die Decke hoch, die Gesichter gerötet. «Falsch», sagte der Wirt, schloss die Türe. Vor dem nächsten Zimmer horchte er angestrengt: «Ebenfalls occupato.» Dann eine Treppe höher. Er suchte den Schlüssel, drückte gleichzeitig mit dem Ellbogen die Klinke, es war nicht verschlossen – und da war eben dieses Zimmer.
Ein Zimmer und sein Charme
Kein besonders schönes Zimmer, eher eine Höhle auf einem vierten Stockwerk. Aber immerhin ein Zimmer. Ich setzte mich aufs Bett, und das Bett krachte zusammen. Und ich brüllte los. Ich weiss nicht, ob ich je einen Lachkrampf hatte oder wann das letzte Mal, aber das war einer: Ich lag auf der eingeknickten Matratze und habe gelacht, gelacht, es ist so gekommen, hat gelacht und gelacht. Wahrscheinlich hätte man mich für einen Irren gehalten, hätte mich jemand gesehen. Drei Eisenbetten nebeneinander, schrecklich gemusterte Wolldecken drauf, die eine rot-schwarz geblumt, die zweite mit hellbraunen Karrees, die dritte wellig gekräuselt, grün und schwarz. Und das rot-schwarz geblumte eingebrochen.
Beim einen Fenster stehen die geschlossenen Läden schräg. Traue mich nicht, sie zu öffnen. Würde ich sie bewegen, fielen sie vielleicht runter aufs Trottoir und dort sitzen Leute. Beim andern sind sie offen, aber ich wage nicht, sie zu schliessen. Aus demselben Grund.
Das zweite Bett hält, das Lavabo hat schon lange niemand mehr zu putzen versucht. Eine Dusche steht im Raum, aber ich wage nicht, das Wasser anzudrehen. Das WC ist im Gang, habe es benutzt. Als ich das Licht andrehte, heulte die Lüftung wie eine todkranke Sirene. Ein klägliches Jammern, Heulen, ein Entsetzen.
Die Lichtschalter darf man nur bei Tageslicht benutzen. Im Dunkel langt man an die blanken Drähte. Das Zimmer war eigentlich nicht frei – es ist gar keines, einen Schlüssel gibt es nicht.
Aber das Fenster geht auf die Piazza hinaus. Die Männer sitzen an Tischen, die zu keiner Bar gehören, manchmal geht einer irgendwohin und holt ein Glas oder eine Flasche. Und sie schwatzen und lachen und sind laut. Aus zwei Bars tönt Musik, Pop, lauter die eine als die andere – aber verkehrsfrei, kein Töff kurvt über den Platz, keine dieser hochtourigen Nervensägen. Buben spielen Fussball, zehn sind es vielleicht. Der Platz ist lang, hundertdreissig Meter und bis die eine Mannschaft vom einen zum anderen Tor vorgestossen ist, geht es lange. Der Torhüter, zwischen zwei Wegpfosten, kann sich hinsetzen, warten und seine Kommentare über den Platz schreien.
Furchtbare Einsicht
Ich benutze die Gelegenheit, wieder einmal eine Landkarte zu kaufen. Eine Autokarte eigentlich. Ganz Italien ist drauf; bis jetzt hatte ich eine, die bis etwa auf die Höhe von Rom reichte. Ja, und der Blick auf die neue Karte stürzte mich in eine kleine Depression: Sizilien – so sah ich – war noch etwa 850 Kilometer entfernt. Und jetzt ist 7. August. So um den 25. August müsste ich zuhause sein, dann beginnt das Zügeln nach Paris.
Und jetzt?
Gescheitert? Jahrelang rumerzählt, einmal von Schottland nach Sizilien wandern zu wollen, und jetzt das Eingeständnis, es nicht schaffen zu können?
Beratung unter Männern
Ich bestelle ein Glas Wein und muss bedeppert aussehen. Die Männer am Nebentisch werfen mir erst fragende Blicke, dann zaghafte Fragen zu. Wir kommen ins Gespräch und am Schluss des Gesprächs ist klar: Entweder du marschierst jetzt noch vierzehn Tage und bist dann irgendwo bei Neapel, wo du den Zug in die Schweiz nimmst: Unternehmen fast gelungen, aber doch nicht ganz. Oder: «Du kaufst Dir eine Biccicletta und fährst nach Sizilien. Kein Problem, es geht immer runter. Dann hast Du das Ziel erreicht, mit einem kleinen Trick.» Mir kam der Irre von Montefiorino in den Sinn, der mir erstmals geraten hatte, auf einem Velo voranzukommen, und ich wurde einen Moment lang ganz christlich: «Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.»
Wir hatten unterdessen noch ein oder zwei Glas Wein getrunken und die Welt, schien mir, sah schon etwas besser aus. Zumal das mit dem Kauf eines Velos gar nicht ein so grosses Problem werden würde. Der eine am Tisch, der mich zusammen mit dem Irren von Montefiorino auf den Gedanken der Velo-Weiterfahrt gebracht hatte, verkaufte nämlich zufälligerweise Occasionen. «Komm morgen vorbei», sagte er, «ich verkauf dir eine günstige biccicletta.»
Meine Tischgesellschaft löste sich auf, ich schaute zu, wie Paare über die Piazza promenierten, eine siebzigjährige Tochter führte ihre gebrechliche Mutter über den Platz, mein Hotel führt ein Restaurant und ich habe weder jemals so gute Papardelle noch so gutes Fleisch mit einem gebratenen Steinpilz obendrauf gegessen.
Betrachtungen auf der Piazza
Aus den Häusern um den Platz blicken manchmal Leute aus den Fenstern, manchmal sehe ich Kleinkinder auf den Armen ihrer Eltern. Bald werden auch sie Fussball spielen da unten. Im Hintergrund eine beleuchtete Kirche. In einem erleuchteten Raum vis-à-vis hängen dunkle Ölgemälde unter jahrhundertealten Deckenbalken.
Die Leute schwatzen, trinken was, rauchen, lassen die Musik über sich ergehen, Kinder schreien, ein Hund bellt, weil er einen anderen Hund sieht, jener an der Leine eines jungen Paares allerdings. Geschirr scheppert.
Was schwatzen sie die ganze Zeit, wenn sie Jahr für Jahr einen langen, langen Sommer lang Zeit haben, da zu sitzen? Abend für Abend, und einfach schwatzen. Schwatzen, schwatzen, nachher schlafen, die einen gehen arbeiten, die anderen haben das ganze Leben lang genug gearbeitet, schwatzen, sitzen, schlafen, arbeiten, auf den nächsten Tag warten, der auch wieder schön sein wird, an dem man ganz gewiss und mit Sicherheit wieder hierhergehen kann. Ganz gewiss. Man lebt hier, wieso sollte man nicht hierher gehen können morgen Abend und schwatzen. Einen Grund, nicht zu gehen, gibt es nicht. Man ist morgens wieder hier, ohne Frage.
(Figline, 7. August 2002)