Schulmeister vom Fach

Drei Filme, drei Länder, drei pädagogische Stile. In «Conducta» des Kubaners Ernesto Daranas ist die Lehrerin eine lebenskluge Pädagogin alter Schule. In «Whiplash» des Amerikaners Damien Chazelle ist der Lehrer ein Drillmeister. In «Frau Müller muss weg» des Deutschen Sönke Wortmann steht eine pragmatische Kommunikatorin im Klassenzimmer. «Lehrerkenntnis», so sah es einst Bertolt Brecht, «ist […]

Lehrer oder Drillmeister? Terence Fletcher in «Whiplash» ist beides.

Drei Filme, drei Länder, drei pädagogische Stile. In «Conducta» des Kubaners Ernesto Daranas ist die Lehrerin eine lebenskluge Pädagogin alter Schule. In «Whiplash» des Amerikaners Damien Chazelle ist der Lehrer ein Drillmeister. In «Frau Müller muss weg» des Deutschen Sönke Wortmann steht eine pragmatische Kommunikatorin im Klassenzimmer.

«Lehrerkenntnis», so sah es einst Bertolt Brecht, «ist die erste Menschenkenntnis.» Lehrer können wir uns – wie Eltern – nicht aussuchen. Wir können sie lieben, bekämpfen, aushalten oder um den Finger wickeln. Doch eine Wahl haben wir nicht.

Eltern neigen deshalb immer mehr dazu, die Schule für ihre Kinder wählen zu wollen und damit indirekt die Lehrperson. Doch welche Lehrertypen sind eigentlich im Angebot? Welche Stile?

Gleich in drei  Filmen, die dieser Tage in den Basler Kinos laufen, wird das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern thematisiert und damit pädagogisches Handeln umrissen. In «Conducta» des Kubaners Ernesto Daranas ist die Lehrerin eine lebenskluge Pädagogin alter Schule. In «Whiplash» des Amerikaners Damien Chazelle ist der Lehrer ein Drillmeister. In «Frau Müller muss weg» des Deutschen Sönke Wortmann steht eine pragmatische Kommunikatorin im Klassenzimmer.

Wie sehen die Lehrerfiguren aus? Erst einmal treten die drei Lehrkräfte vor drei unterschiedlichen Kulissen in drei Ländern auf: in Havanna, in New York und in Leipzig. Dann sind sie in unterschiedlichen Schultypen tätig. In Havanna liefert der verlotterte Charme der Hauptstadt-Volksschule den Hintergrund. In New York bildet die angsteinflössende Tradition einer Eliteschule die Kulisse. In Leipzig ist es ein in die Jahre gekommener Randzonenbau, der Gesamtschuloffenheit verspricht.

Schulbeispiele vor unterschiedlichen Kulissen

So verschieden die Schulen, so unterschiedlich gestaltet sich das schulische Umfeld, in dem die Lehrerfiguren agieren. Die Lehrerin in «Conducta» unterrichtet an einer Grundschule von Havanna, die einen eigenen kleinen Kosmos bildet: Die Kinder sind den ganzen Tag da, werden rund um die Uhr betreut, die Lehrerin ist mit der Schule verwachsen.

Der New Yorker Lehrer leitet den Jazz-Kurs an einer Elite-Musikschule. Wenn er den Raum betritt, herrscht ängstliche Stille. Sein Fingerzeig kann bereits Versetzung bedeuten.

Die deutsche Frau Müller sehen wir gar nicht erst mit ihren Schülern. Sie hat einen Elternabend einberufen, an dem sie ihr pädagogisches Geschick entwickelt.

Der pädagogische Stil 1: Die beziehungsorientierte Autoritative

Carmela, die Lehrerin in dem kubanischen Film «Conducta», reizt kurz vor ihrer Pensionierung die Grenzen der pädagogischen Freiheiten aus. Sie fordert von sich, was sie den Schülern gibt: Das Beste für den Lehrer ist das Beste für seinen Schüler. Doch das muss nicht das Beste für die Schule sein.

Der Film zeigt Carmelas Schüler in wuchtigen Bildern. Ein Güterzug nähert sich einem spielenden Kind. Erst hört man die Stahllawine nur in der Ferne. Der Zug rollt mit beharrlichem Getöse auf Chala zu. Bis er ihn von den Geleisen zwingt. Aber Chala scheint nicht wehrlos. Er züchtet Kampfhunde. Nur in der Schule eckt er überall an. Seine Lehrerin weiss, dass Chala in prekären Verhältnissen lebt. Seine Mutter ist arbeitslos und alleinerziehend. Carmela lässt ihn gewähren, so wie sie auch mal eine Schülerin ohne Papiere in ihrer Klasse bleiben lässt. Sie mischt sich aber auch über die Schule hinaus in das Leben von Chalas Mutter ein. Und sorgt bei deren Freund für Vernunft.

Carmela ist eine Pädagogin alter Schule. Sie weiss, dass Verbote nicht verstanden werden, wenn sie von allen blind befolgt werden. Wachsen kann an Regeln nur, wer sie überschreitet.  Das gilt auch für Yeni. Sie ist das klügste Mädchen in der Klasse. Sie heftet, als der Mann von Carmela stirbt, ein Heiligenbildchen ans Anschlagbrett der Schüler. Das Heiligenbildchen ist dort verboten.

Eigentlich müsste Carmela (phantastisch gespielt von Alina Rodríguez) als Lehrerin das Bildchen nun wegnehmen. Sie müsste die Schülerin bestrafen. Aber die Lehrerin lässt das Bildchen hängen. Sie selbst steht vor dem Ruhestand. Sie scheut keine Strafe mehr.

Carmelas Stil ist lebensnah. So nah, dass sie das Leben auch in die Schulstube holt, sich angreifbar macht für das Leben draussen. Carmela zeigt sich aber auch angriffig: Ihre Schüler wissen nicht, dass ihre Lehrerin durch das Auslassen der Strafe sich selber zur Strafbaren macht. Statt der Schüler müsste nun Carmela bestraft werden. Doch man verzichtet auf Sanktionen. Carmela wird ohnhin bald pensioniert. Das Bildchen bleibt hängen.

Der Regisseur Ernesto Daranas führt mit seinem Schulbeispiel einer Lehrkraft einen bemerkenswert vielseitigen Diskurs des Widerstandes – und des Aufbaus. Diese Lehrerin verstösst nicht nur gegen die Regeln des Systems. Sie entwickelt auch neue.

Ganz auf das Individuum bezogen, wird sie zum Teil einer leisen, kindlichen Jugend-Rebellion. Sie holt ihren Schüler Chala auf die Gleise zurück. Ihre intensive, beziehungsbezogene pädagogische Haltung wird eine kindliche Liebesgeschichte der Lehrerin mit den beiden Kindern. Ihr persönlicher Stil ist auch eine Triebfeder des Films.

«Conducta» kreist um den Kern eines pädagogischen Stils, der die Beziehung in den Dienst des Unterprivilegierten stellt. Mit Rundum-Pädagogik – lebensnah und individuell. Fast als Mutterfigur stellt die Lehrerin im Konflikt des Sohnes mit der Mutter für Chala den Sparringpartner und entlastet die wirkliche Mutter. Sie übernimmt die Funktion der Fördererin, der Erzieherin, derweil die wirkliche Mutter Chalas zunehmend unter der Last ihrer Sucht zusammenbricht.

Der pädagogische Stil 2: Der autoritäre Haudegen

Ganz anders gestaltet der Lehrer Fletcher seine Rolle. In «Whiplash» spielt das soziale Umfeld für den Musikdozenten keine Rolle. Er sieht die reine Leistung. Er versteht sich dabei allerdings als das Mass aller Dinge. Er entscheidet über die Bestleistung, für die Ehre der Schule, für den Ruf ihrer Abgänger.

An seiner Elite-Schule interessiert nicht das Individuum. Es sei denn, es neigt zu Höchstleistungen.

Der pädagogische Stil des Lehrers in «Whiplash» ist autoritär. Er meint, Höchstleistung sei durch Drill erreichbar. Der Drill wird durch ihn verkörpert. Der Schüler hat sich nach dem Ohrenmass des Lehrers zu richten. Der Schüler Andrew will ein grosser Schlagzeuger werden. Er will am Shaffer-Konservatorium Unterricht beim Besten, bei dem gefürchtetsten Lehrer der Schule. Dieser, der Lehrer Fletcher, will ein grosser Dozent sein.

Also begegnen sich zwei, die sich gegenseitig brauchen, um die elitäre Kampf-Pädagogik zu leben: Wer beim Besten lernen darf, wird auch der beste Schüler werden. Das ergibt über weite Strecken ein faszinierendes pädagogisches Säbelrasseln zweier Alpha-Tiere im Film und gleichzeitig ein Muster für das Meister-Schüler-Verhältnis.

Wäre nicht die Kunst ein diffizileres Gebilde als etwa der Boxsport. Während Fletcher den pädagogischen Beweis antreten will, dass in der Kunst wie im Sport der Wille einen Weg findet, eskaliert das künstlerische Lehrer-Schüler-Verhältnis, das auf Drill beruht. Das führt in ein leicht durchschaubares Muster und in einen autoritären pädagogischen Stil, in dem Gehorsam die grössere Rolle spielt als das Aneignen von Inhalt. Dieser Schüler-Meister-Plot hält die Spannung bald nur durch Zuspitzung des Drills – wie in einem immer schneller werdenden Trommelwirbel.

Lehrer-Schüler-Geschichten sind ja nicht zuletzt deshalb für ein grosses Publikum faszinierend, weil im Zuschauerraum lauter ehemalige Schüler sitzen. Wir alle haben einmal einem Lehrer gegenübergestanden, der uns meilenweit voraus war, an dem wir uns messen konnten. Jede war selber einmal Schülerin. Jeder weiss, wie man reüssiert, scheitert, zur Elite gehört oder einfach Angst vor dem Untergehen hat.

Fletcher strebt danach, für Andrew, den begabten Schlagzeuger, ein Übervater zu sein. Das ist denn auch das spannende Drama in «Whiplash». Andrew trifft in Fletcher nicht nur auf einen Meister seines Fachs. Er trifft nicht auf meisterhafte Musik: Er trifft einen Meister der Manipulation. Während der Begabte sich am Meister des Faches aufreibt, entzieht er sich schliesslich dem Manipulator und Machtmenschen.

Fletcher knüpft ein ganzes Netz von Unterwerfung. Auch Andrews Studienkollegen ducken, lassen sich triezen und erniedrigen. Andrew begegnet einem Lehrer, der zwar weiss, wann einer ein grosser Künstler ist, aber nicht, wie man einer wird.

Fletcher zwingt Andrew in einen Kampf um seine künstlerische Freiheit, wie einen Boxer mit Blei in den Handschuhen, um ihn für die Meisterschaft fit zu machen. Der Stil des Lehrers mutiert immer mehr zum «Schleifer». «Auch Charlie Parker», betont Fletcher, «ist erst zu ‹Bird› geworden, nachdem man ihm eine Hi-Hat nachgeschmissen hat.» Im Umkehrschluss gälte dann ja auch, dass man seiner Tochter nur mal eben ein Schlagzeug an den Kopf werfen müsse, um sie zu einer guten Drummerin zu machen.

Andrew wird während Fletchers Drills erwachsen. Er wird vom Leben eingeholt. Fletcher stösst ihn weiter in ein Tal der Tränen – dorthin, wo sich kaum ein Film über das Lehrer-Schüler-Verhältnis bis jetzt gewagt hat. Erst als der Lehrer stürzt und sein Stil damit scheitert, findet Andrew seinen Meister – und die Wege trennen sich.

Der Lehrer in «Whiplash» macht uns glauben, Drill führe letztlich auf den Weg zur musikalischen Meisterschaft. Damit ist «Whiplash» eine faszinerende Abhandlung über den Fleiss im Kunsthandwerk. Man könnte «Whiplash» aber auch als Beitrag zu einer neuen Elite-Pädagogik sehen: Terence Fletcher erinnert eher an Sergeant Hartman aus «Full Metal Jacket» denn an einen künstlerisch musikalischen Meister.

Der pädagogische Stil 3: Die pragmatische Lehrplanerin

«Frau Müller muss weg.» Mit dieser Überzeugung treten die Eltern ins Klassenzimmer der Frau Müller. Sönke Wortmann findet damit den Filmtitel und den Boden für eine hinreissend pragmatische Lehrperson. Frau Müller ist ganz an der demokratischen Durchsetzbarkeit ihrer Pädagogik orientiert. Sie führt einen ganz leisen Klassenkampf. In ihrer Klasse soll jedes Kind möglichst sein Bestes leisten und dabei so gut lernen wie nie zuvor, auch wenn es nicht besser als sein Nachbar wird, dafür aber ein bisschen mehr sich selbst.

Dabei trifft Frau Müller nicht auf Schüler. Sie trifft auf die Eltern ihrer Schüler. Und da die Eltern etwas wollen, was Schüler auch schon gerne mal wollten, nähmlich die Lehrerin loswerden, trifft im Klassenzimmer bald ein, was den Film so spannend macht: Die Eltern werden wie Kinder und – Schüler.

Die Mutter Jessica, rasierklingenscharf von Anke Engelke gespielt, verfolgt ihr Klassenbesten-Ziel mit demagogischem Schneid: Sie hat Unterschriften gesammelt. Sie hat ein Netzwerk errichtet. Sie hat sich zur Wortführerin wählen lassen. Sie benennt ihr Ziel eisenhart: «Ins Gymnasium muss sie, egal wie blöd sie auch ist!», und meint damit ihre Tochter.

Frau Müller hat den Eltern aber eine andere Lektion an Demokratie anzubieten. Sie nimmt den Rausschmiss sofort an. Zumindest verlässt sie sofort das Klassenzimmer. Sie überlässt die Elternklasse sich selbst. Im Laissez-Faire unter Eltern kommt es nun an den Tag: In der Schule können nicht alle Eltern gleich gut sein. Also kämpfen diese Eltern, wofür alle Eltern kämpfen, für das Beste. Für ihr Bestes. Für ihres eigenes Kind. Gegen die anderen.

Und ganz langsam schält sich in diesem antiautoritären Hickhack die Einsicht heraus: Auch wenn wir fürs Leben lernen – die Schule entscheidet schliesslich über unser Leben. Die Schule, ein Ort mitten in der Demokratie, ist deshalb noch lange kein demokratischer Ort. Und eben als die Eltern glauben, sie hätten in der Schule ein Mitspracherecht, kehrt die permissive Lehrerin wieder zurück.

Die Kinder tauchen in «Frau Müller muss weg» gar nicht auf. Das macht die schulische Diskussionen im Film so gerissen: Die Kinder sind längst nur noch Projekte, Wunschgeburten ihrer Eltern. Die Kinder dieser Eltern sollen die Träume ihrer Eltern erfüllen. Jemand muss das den Kindern doch beibringen können. Und genau da setzt Frau Müllers Stil an. Sie schützt die Kinder möglichst vor den Träumen der Eltern – und vor den Albträumen des Lebens.

Das geht aber nicht nur mit demokratischen Mitteln. Die Lehrerin stellt das gleich zu Beginn des Filmes klar: «Lehrer werden nicht demokratisch gewählt, sondern vom Amt bestimmt.» Damit ist auch das politische Klima in dieser Schule skizziert. Sie ist der verlängerte Arm des demokratischen Staates.

Die Eltern stehen zum Schluss wie Schulkinder im Klassenzimmer: hochgeschossene Streber, Spickzettelschreiber, Ellbogenübersblattschieber, Besserwisser, Minimalisten, Abschreiber oder ganz einfach nur Petzen – wie die Schüler der Schule von einst. Einer Schule, die Bildung im Lehrplan stehen hatte, aber Auslese als Zweck praktizierte.

Meinungsbildung hat mit Bildung zu tun

Drei Filme, dreimal schulischer Zündstoff. Dreimal wird das Klassenzimmer zu einem Gesellschaftsmodell, in dem Bildung entweder als soziales Kulturgut, als individueller Machtfaktor oder als allgemeiner Gebrauchswert vermittelt wird. Der Film erweitert damit die pädagogische Diskussion immerhin um den Faktor Mensch: drei Lehrerinnen-Typen. Eine, die mit ihren Schülern lebt, einer der will, dass seine Schüler für ihn leben, und eine, die will, dass die Schüler ihr eigenes Leben mögen lernen.

In allen drei Filmen wird angedeutet, was wir immer schon ahnten: Wenn Kinder ihre Lehrer auswählen dürften, dann wären sie bessere Schüler. Aber gilt dann nicht auch der Umkehrschluss, dass Lehrer bessere Lehrer wären, wenn sie die Kinder aussuchen dürften? Zumindest die Eltern hätten heute gerne die Wahl.

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