Die Schweizer Handballer stehen vor einer schwierigen EM-Ausscheidung und vor einem spannenden Wiederaufbau. Michael Suter managt ein bemerkenswert konsequentes SHV-Projekt.
Zur Standortbestimmung der Nationalmannschaft wählte Zentralvorstandsmitglied Pascal Jenny im letzten Frühling die schonungslose Variante: «Tiefer können wir nicht mehr sinken.» Die letzte von elf missratenen WM-Kampagnen endete mit einem 21:34-Fiasko gegen die Niederlande. Verschwunden ist die Auswahl des Schweizer Handball-Verbandes (SHV) schon länger; in den letzten beiden Jahrzehnten hat sie von 22 möglichen WM- und EM-Endrunden 19 verpasst.
Eine letzte Chance bliebe nun, die Wende einzuleiten, mahnte Jenny an. Einem der innovativsten Köpfe der Szene traut die Verbandsleitung den Turnaround in der grossen sportlichen Not zu: Suter, seit Anfang März im Amt, 41-jährig, ein fundierter Macher mit Ideen und einem Plan, die jahrelange Stagnation aufzubrechen und das abgestürzte Team aus der Versenkung zu führen.
In der kommenden EM-Ausscheidung wird unter normalen Umständen indes (noch) wenig auszurichten sein. Der heutige Gegner Slowenien gehört zur erweiterten Weltspitze, Deutschland, der Gegner am Samstag im Hallenstadion, ist Titelträger. Und selbst Portugal hat vielversprechendere EM-Werte vorzuweisen als die Schweiz. Bittere Lehrstunden sind zu erwarten, auch wenn Suter hofft, «den Gegnern das Leben so lange wie möglich schwer zu machen».
Vor dem schwierigen Auftakt heute in Velenje (18.00 Uhr) hat der neue Chefstratege ein übergeordnetes Bild im Kopf, ohne das aktuelle Geschehen zu vernachlässigen: «Ich will das Team in allen Spielen ans Limit bringen. Wenn es etwas zu holen gibt, dann machen wir das jetzt schon. Die Botschaft ist klar: Man soll merken, dass es in absehbarer Zeit gut kommen kann.»
Neue Rollenverteilung
Den kompletten Neustart peilt Suter in Slowenien mit der vermutlich jüngsten Equipe der Verbandsgeschichte an. «Ich gehe genau jenen Weg, den wir zusammen mit dem Zentralvorstand im Februar besprochen und festgelegt haben.» In Velenje tritt er nach dem krankeitsbedingten Ausfall des Rhein-Neckar-Regisseurs Andy Schmid nahezu mit einer U23-Auswahl und ohne seine erste Rückraumgarnitur an.
Die Verjüngung ist markant, aber nicht der zentrale Punkt. Zur Neuformierung gehört in Suters Augen weit mehr als ein tieferer Altersschnitt: «Eine gute Rollenverteilung ist das Erfolgsrezept jeder Mannschaft. Mit Jung und Alt hat das nichts zu tun.» Captain ist beispielsweise weder der Bundesliga-MVP Schmid noch einer der umfangreichen Nachwuchsfraktion, sondern Manuel Liniger, der 35-jährige Schaffhauser Flügel.
Die Wahl Linigers hat Suter gut abgewogen. Sie ist ein Indiz dafür, wie der Nationalcoach funktioniert. Zum einen garantiert der Kadetten-Profi Qualität, andererseits lebt der Linksaussen die 100-prozentige Identifikation mit der Equipe vor und wird in seiner Rolle den sportlichen Teamleader Schmid entlasten. «Er ist auf und neben dem Platz ein Vorbild.»
Vom einen der wenigen Routiniers hat der Teamchef das Bekenntnis, das er vor seiner Zusage vor acht Monaten zur Bedingung gemacht hat: eine mehrjährige gemeinsame Zukunft, das Versprechen, während eines längeren Zeitraums vollumfänglich auf den Handballsport zu setzen.
Suter hält die konsequente Umsetzung seiner Vorstellungen für realistisch, die Basis dafür hätten sie in diversen Meetings geschaffen: «Die Voraussetzungen sind da, die Jungs haben von der ersten Minute an voll mitgezogen. Ich kenne die meisten Spieler bereits sehr lange und glaube, gut erkennen zu können, wer bereit ist, alles in eine bessere Zukunft zu investieren.»
Breiter Schulterschluss
Während seines Langzeit-Engagements im Nachwuchssegment hat er den SHV im internationalen Juniorenbereich im vorderen Drittel etabliert. «Auf dieser Stufe waren mit ein paar Tricks, mit gutem Coaching und sonstigen Extras besser klassierte Teams zu schlagen», relativiert Suter und warnt: «Ein bisschen Euphorie, ein bisschen Suter, ein bisschen Talent, das genügt jetzt nicht mehr. Auf A-Team-Level ist das Knowhow überall gross.»
Ein kräftiger Schritt nach vorne sei zwar dringend nötig und möglich, aber der Faktor Zeit sollte nicht unterschätzt werden. «Wir müssen etwas deutlich Besseres entwickeln, es braucht deshalb auch Geduld. Auch wenn wir perfekt arbeiten, wird es verdammt schwierig.»
Unter Ergebnisdruck steht Suter vorderhand nicht. Jeder im Umfeld hat den Ernst der Lage begriffen. Der Schulterschluss zwischen den Klubs und der Nationalmannschaft ist breit. Zusätzliche Tage für die Vorbereitung wichtiger Termine werden diskussionslos genehmigt. Alle relevanten Kreise haben dem Selektionär eine langfristige Kooperation zugesichert. Die Schweizer Handball-Szene hat Suter einstimmig eine Carte Blanche ausgestellt.
Gruppe 5: Deutschland, Slowenien, Portugal, Schweiz. – Schweizer Programm. 2. November, 18 Uhr: Slowenien – Schweiz (Velenje). – 5. November, 17.45 Uhr: Schweiz – Deutschland (Zürich/Hallenstadion). – 2017. 3./4. Mai 2017: Schweiz – Portugal. 6./7. Mai: Portugal – Schweiz. – 14./15. Juni: Schweiz – Slowenien. – 17./18. Juni: Deutschland – Schweiz.
Modus: Top 2 pro Gruppe plus der beste Gruppendritte neben dem Gastgeber Kroatien für die EM-Endrunde 2018 qualifiziert.