Beim 22:23 gegen Deutschland stellt die neu besetzte SHV-Auswahl ihre mögliche Reichweite vor einer Länderspiel-Rekordkulisse ein erstes Mal unter Beweis. Ein kräftiger Aufschwung ist absehbar.
Dagur Sigurdsson ist im internationalen Handball-Geschäft bisher nicht als ausserordentlicher Charmeur aufgefallen. Im Nachgang zum 2. Spieltag in der EM-Qualifikation am Samstag gegen die Schweiz setzte der in der Regel vor allem pragmatische Isländer indes zu einer bemerkenswerten Offensive an: «Hut ab vor dieser Mannschaft. Sie spielte taktisch hervorragend.» Seine Eloge galt nicht dem Europameister, er meinte die Schweiz, den krassen Aussenseiter.
Den enttäuschten Verlierern attestierte der EM-Zampano eine «grosse Zukunft». Neben ihm sass und staunte Michael Suter. Seit etwas mehr als acht Monaten versucht der langjährige Junioren-Förderer, eine neue Basis zu schaffen und den Scherbenhaufen seiner Vorgänger zu beseitigen. Die Komplimente aus dem Lager einer europäischen Top-Nation beschleunigen den Entwicklungsprozess nicht, aber sie tun der Schweizer Verbandsauswahl gut, die nach einem mehrjährigen Sinkflug mit einem ramponierten Image zu kämpfen hat.
Die verhältnismässig knappe Niederlage in Slowenien und der bis zur letzten Minute herausragende Auftritt gegen Deutschland sind zumindest als vielversprechende Momentaufnahmen zu werten. In beiden Fällen beruhte das zielorientierte Spiel der Schweizer nicht mehr auf Zufall oder auf der Kunst eines Solo-Unterhalters, sondern auf einem klar ersichtlichen Konzept. Das Talent und der nötige körperliche Hubraum sind offenkundig vorhanden, die ehrgeizigen Pläne des akribischen Taktgebers Suter 1:1 umzusetzen.
«Es soll und wird immer weitergehen. Wir haben langfristige Perspektiven, aber auch den absoluten Willen, sofort gute Leistungen zu erbringen», steckt Suter den Themenbereich ab. «Wir haben in den letzten Tagen extrem viel gelernt. Stillstand kommt für uns nicht mehr infrage.» Es stimme ihn durchaus traurig, zweimal überzeugt und doch verloren zu haben, «aber es geht um das grosse Bild, um die Sache, die wir entwickeln wollen».
Captain Manuel Liniger, weiss, wie die Performance gegen die Nummer 1 Europas zu interpretieren ist. Der Linksaussen hat in den letzten eineinhalb Dekaden von der EM-Teilnahme bis zur Bankrotterklärung beim 21:34 in den Niederlanden Anfang Jahr alle SHV-Schattierungen erlebt. «Wie Tag und Nacht ist es im Vergleich zu früher», sagt der 35-Jährige. «Irgendwann werden wir mit dieser Mannschaft die wichtigen Spiele gewinnen.»
Auf dem (Tabellen-)Papier sind die Schweizer Handballer immer noch gleich weit wie zuletzt fast immer: letztplatziert, punktelos. In Tat und Wahrheit sind das Niveau, die Struktur im Spiel, die persönlichen Ansprüche, das Bekenntnis für den Sport nicht mehr vergleichbar mit der trostlosen jüngeren Vergangenheit. Es ist zeitgleich eine starke Fraktion von Talenten oben angekommen, die im Junioren-Bereich ihre internationalen Spiele mehrheitlich dominiert und gewonnen haben.
Andy Schmid, seit drei Saisons der mit Abstand beste Feldspieler der Bundesliga, irrt sich in seinem Kernbereich selten: «Wir werden uns vielleicht nicht sofort für eine Endrunde qualifizieren. Aber inzwischen sind die Qualität und Physis vorhanden, zu Hause jeden Gegner schlagen zu können.»
In die darbende Schweizer Szene ist innert Kürze Bewegung gekommen. Mit ihrer aus wirtschaftlicher Sicht couragierten Hallenstadion-Reservation hat die Verbandsleitung im Sommer vorgespurt. Über 10’000 Anhänger füllten den Oerliker Tempel und sorgten für eine Atmosphäre wie in den goldenen Schweizer Handball-Achtziger- und Neunzigerjahren – es war nicht nur das Spiel, sondern auch das Commitment des Jahres.