Nicht ums Auto und nicht ums Geld streitet die Schweizer Bevölkerung am liebsten; sie streitet um alles, was ihr lieb ist. Die Streitenden wollen Gerechtigkeit, und es geht ihnen ums Prinzip, sagt Rechtsschutzanwalt Daniel Siegrist.
Die Emotionen gehen dann hoch, wenn jemandes Liebstes getroffen wird, selbst wenn dieses Liebste banal erscheint. «Ist jemand ein leidenschaftlicher Gärtner, dann kann er oder sie wegen der Höhe einer Hecke einen Streit vom Zaun brechen; putzt jemand jedes Wochenende sein Auto, ist er wegen einer Beule am Kotflügel tief getroffen», sagt Siegrist.
Über 26’000 Fälle
Siegrist ist seit 23 Jahren Anwalt bei Coop Rechtsschutz und seit 2008 Geschäftsführer. Er betreut aber weiterhin Fälle. Bis Ende Dezember dürften es dieses Jahr bei der Rechtsschutzversicherung in Aarau 26’500 Fälle werden.
Den «typischen Fall» gibt es nicht. «Wir erhalten Kraut und Rüben durcheinander.» Dies belegt die eigene Statistik: 18 Prozent sind Verkehrsrechtsschutzfälle, fast die Hälfte davon Straf- und Administrativverfahren, bei einem weiteren Viertel geht es um Verträge.
82 Prozent aller Fälle betreffen Privatrecht: 13 Prozent davon laufen unter dem Titel Vertragsrecht, je 10 Prozent sind Mietrechts- und Arbeitsrechtsfälle, 9 Prozent Haftpflichts- und Versicherungsrechtsfälle. Der Rest teilt sich in Rechtsgebiete wie Patienten- oder Liegenschaftsrecht auf.
Eine Rechtsschutzversicherung deckt nicht alles ab: Gegen eine Scheidung oder einen Erbstreit kann man sich nicht wirklich absichern. Hier kommt der Beratungsrechtsschutz (34 Prozent) zum Zug. Die Versicherung steht den Kunden mit Rat, aber nicht mit Tat zur Seite. Sie kann zum Beispiel Anwälte empfehlen, aber bezahlt diese nicht oder nur eine Anfangsberatung.
Reden statt klagen
Konfliktreich sind viele Fälle im Arbeitsrecht. «Oft suchen die Leute dort im Recht eine Lösung, das Problem liegt aber im Zwischenmenschlichen. Das Problem wäre gar nicht entstanden, wenn die Leute richtig miteinander reden könnten.»
Ein Fall bleibt Siegrist unvergessen: eine Auseinandersetzung zwischen einem Pfarrer und der Kirchgemeinde. Die mit Laien besetzte Kirchgemeinde handelte und kommunizierte «dilettantisch»; der Pfarrer wiederum war stets nur sein eigener Chef gewesen und reagierte «beleidigt».
«Es ist unglaublich, mit welcher Sturheit jede Seite auf ihrem Standpunkt beharrte – und alle beriefen sich auch noch auf Gott. Und wir staunten und fragten uns, wo die christliche Nächstenliebe geblieben war», erinnert sich Siegrist.
Was ist eine Bagatelle?
Oft steht ein Missverständnis am Anfang eines Rechtsstreites. Das gelte für den berühmten Waschküchenstreit ebenso wie für manchen Nachbarschaftsstreit. Aus einer Kleinigkeit wird plötzlich ein Riesenproblem.
Was aber eine Bagatelle ist, liegt im Auge des Betrachters. Das weiss der 57-Jährige aus eigener Erfahrung. Er schätze sich selbst als Typen ein, den kaum etwas aus der Ruhe bringe – «ausser es trifft mich selbst oder jemand tritt mir zu nahe, dann kann ich plötzlich auch übertrieben wütend werden». So ergehe es vielen.
So nicht!
Geht es aber um die Gesundheit, wird es bei Streitfällen sehr schnell existenzbedrohend. «Solche Fälle – wie Unfälle oder IV-Fälle – gehören für mich zu den wichtigsten», sagt Siegrist.
Zum wichtigsten überhaupt wurde für ihn der Fall Hans Moor. Moor war Turbinenmonteur und hatte von 1962 bis 1978 Kontakt mit Asbest. 2004 erhielt er die Diagnose asbestbedingter Krebs; Ende 2005 starb er.
Doch die Gerichte verweigerten der Witwe und ihren Töchtern Genugtuungszahlungen: Das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes sehe eine Frist von höchstens zehn Jahren nach dem letzten Asbest-Kontakt vor. Die Ehefrau hätte ihre Forderung also 1988 deponieren müssen – 16 Jahre vor der Diagnose. Erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhielt sie 2014 Recht.
Vertreten hat den Fall Schadenanwalt David Husmann; die Coop Rechtsschutz hatte ihn finanziert. «Als ich das Urteil der ersten Instanz gelesen habe, habe ich gedacht: so nicht! Da gehen wir durch alle Instanzen – auch mit dem Risiko zu verlieren», begründet Siegrist das langjährige Engagement.
Das Urteil könnte Auswirkungen auf die Rechtsprechung haben – die Verjährungsfristen für Haftpflichtfälle sollen von zehn auf 30 Jahre verlängert werden – «immerhin eine deutliche Verbesserung» für die Asbestopfer.