Wir verlassen die Cumbria Berge und wandern durch Landschaften, wo Elfen tanzen lernen. Und erreichen schliesslich wieder eine ganz normale Stadt: Ulverstone.
Keswick in freundlichem Sonnenlicht tut fast ein bisschen weh: Soooo schön, soooo putzig, sooooo nice und niedlich. Die Leute achten darauf, dass mit heimischem Material gebaut wird, sagt der B&B-Wirt. Seine Laune steht irgendwie im Gegensatz zur heiteren Frühlingsstimmung draussen. Wir sind froh, das Haus verlassen zu können. Die Hausmauern also aus heimischem Gestein, die Dächer mit Schiefer gedeckt, Anschriften in golden verzierten Buchstaben. Manchmal farbige Neonröhren-Schriften, die in der Nacht allerdings nur sehr gedämpft leuchten. Die Räume sind tief, Balken sind freigestellt.
Und da dies alles so ordentlich aussieht, kommen die Leute aus den nah und fern liegenden Städten – aus Manchester, Birmingham und London. Und die Einheimischen geben wirklich Sorge: keine Fremdkörper, keine eilig hochgezogenen Hotelkästen wie in Frankreich, Österreich, Italien oder der Schweiz. In Zweier-, Dreiergruppen durchstreifen pensionierte Ortsansässige die Wälder und säubern die Wanderwege. Später starten dann die ebenfalls meist im Rentenalter stehenden Gäste und schlendern über die frisch geputzten Wanderwege. Hin und wieder sitzt ein Landschaftsmaler auf einem Stühlchen und malt den See, Cottages, eine Farm.
Alles wirkt unwirklich, fast unecht: Man bleibt stehen, erstaunt ob der Unversehrtheit, ertappt sich dabei, dass man in ein Nebensträsschen hineingeht, um zu sehen, ob das nicht alles Kulisse sei, ob hinter den Häuschen nicht Verstrebungen stehen, die diese Erscheinungen stützen wie in Hollywood-Dörfern. Aber es ist alles echt – die Häuser haben ringsum Mauern, sind bewohnt oder können zu Ferienzwecken gemietet werden. Die Teacakes in den kleinen Cafes sind essbar und sogar wunderfein und plötzlich löst sich der Argwohn – es ist eine wunderbare Landschaft, dieses Cumbria, die Leute hier haben erkannt, wo ihr Reichtum liegt: in den Taschen der Reichen und Wohlhabenden aus den Städten. Sie leben – wie mir eine Frau erzählt – alle vom Tourismus oder vom Bauern. Und sie kennen – im Unterschied zur Bevölkerung in unseren Tourismusorten, wie mir scheint – so etwas wie Mass statt Begierde nach Masse. Ihr landschaftlicher, natürlicher und architektonischer Reichtum genügt ihnen, sie verschandeln ihn nicht mit billigen Massenangeboten. Real existierender sanfter Tourismus, wie er in den Alpen meist nur in Programmen und allenfalls auf Papier besteht.
Die Elfen tanzen
Das ist nicht nur in Keswick so, auch in Grasmere. Da in der Nähe hat mich die «Taxifahrerin» gestern abgeholt und da fahren wir mit dem Bus wieder hin. Rucksäcke wieder angeschnallt, wir wissen nicht, wo wir abends sein werden, haben uns auch nicht erkundigt, ob es den Gepäck-Service auch gibt. Gemächlich durch die immer flacheren Hügel, bald nur noch welliges Gelände. Unter dem frischen Grün der Eichen, Buchen und Ahornbäume, über dem zart spriessenden Gras sind die Veilchen hochgeschossen – ein Hauch von Violett-Blau schwebt über der leicht gewellten Landschaft. Wer noch nie was von Elfen gehört hat, würde sie hier zwischen Ambleside und Conistopn erfinden, sie durch die Haine tanzen lassen.
Unvermittelt liegt der See von Coniston vor uns. Die rauhen Cumbrischen Berge nur noch eine Erinnerung. Manchmal ein Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass sie eben durchschritten sind, gelb grüssen ginsterbewachsene Hänge. Am See der üppige Frühling. Schlendernde Rentner wieder, eine endlose Wiese mit riesiger Viehherde, der Stier wacht über Kühe und Kälber, Schafe fressen und auf einer Farm das verängstigte Schreien von Lämmern – bereits ist Schlachtzeit. Bedrohlich stehen hinter einer Steinmauer Männer, die den Hotels in der näheren und weiteren Umgebung das Fleisch zubereiten.
Ein Vergnügungsboot nimmt Monika und mich ein Stück weit mit. Erst als wir eingestiegen sind, merken wir und der Kapitän, dass unser Ziel eigentlich in der anderen Richtung liegen würde. Wir lachen, und der Kapitän sagt, in einer Stunde würden wir wieder am Ausgangsort sein. Heisser Tee aus der Flasche und der Wind des fahrenden Schiffes auf der Haut. Der Kapitän bringt uns an den alten Ort zurück, lässt uns weiterwandern an uralten Eichen vorbei, die zum drei-, vierhundertsten Mal ihr Laub austreiben, Äste in den See hinausstrecken so dick wie sonst währschafte Bäume. Wurzeln hängen frei in der Luft, einst hatten sie sich ins Ufer eingegraben, jetzt ist es weggespült.
Die Landschaft wird südwärts flach und flacher. Wir wählen einen Umweg, verlassen den See, folgen dem Cumbrian Way, wo sich der Pfad in verdorrtem Farnstroh verliert, durch das die neuen Pflanzen spriessen. Zeitweise eine archaische, fast biblisch anmutende Landschaft: Sanfte Hügel, die sich in der Weite verlieren, fast baumlos, dann Moorebenen, alles weit, weit, weit …
Alles wieder etwas normaler
Vorn blinken Sandbänke, Meerwasser und eine Stadt: Ulverstone. Eher befremdlich, dass hier wieder Fabriken stehen, Autofriedhöfe, Garagen, rauchende Schlote. Graue, unscheinbare und ärmlich wirkende Vorstadthäuser mit defekten Plastik-Spielsachen im Vorgarten, Abfall in den Strassengräben, Stapel von aufgeschichteten Kunststoff-Harassen. Billig-Warenhäuser. Schenken. Alkoholiker auf Steinbänken. Möbelgeschäfte mit Massenware. Ein Baugeschäft. Eine Stadt einfach, in der Leute leben. Leute, die sich eher in Blackpool als in Keswick vergnügen. Eher auf eine Chilbi gehen als in die «unverdorbene» Bergwelt. Eher ein Bier trinken als ein Glas Wein. Sich auf den Quiz-Abend im Pub freuen und nicht auf den Tea vor dem offenen Kaminfeuer.
Die Unterkunft in Church Walk Hall ist um einiges nüchterner als in den Cumbrischen Bergen – keine Porzellanteller an der Wand, auch keine Glasnippes oder Plüschtierchen auf jedem Sims. Ein schwules Paar führt das Haus, durchaus geschmackvoll. Statt Blumentapeten abgelaugte, tannige Holztüren aus dem Jahre 1720.
(Ulverston, 16. Mai 2002)