«Und jetzt zeige ich dir noch meinen Keller.» Als Salvatore Navarra diesen Satz sagt, sollte das Gespräch eigentlich schon zu Ende sein. Er sitzt auf einem gepolsterten Stuhl im Eingangsbereich seines Ladens, hinter ihm seine kleine Werkstatt, proppenvoll mit Leisten, Werkzeug und schweren Maschinen, deren Verwendungszweck man auch auf den zweiten Blick nicht versteht. In einer kleinen Nische bearbeitet Navarras Frau Ana Maria die Sohle eines schwarzen Schuhs. Aus dem alten Sanyo-Radio auf der Kiste mit Schmirgelpapier läuft «It’s the final countdown», sein Kassettenfach ist behelfsmässig mit Abdeckband zugeklebt.
Navarra hat in der vergangenen Stunde alles erzählt: Von der Kindheit auf den Strassen von Pozzuoli, seinem Lehrmeister Paolo, der ihn rausholte und in die grossen Fabriken Neapels mitnahm, wo er den kleinen Jungen mit den wilden Haaren das Schuhmacher-Handwerk lehrte. Von Frau Toggenburg, die ihn nach Basel lockte, wo er eigentlich nicht mehr hin wollte, seit man ihn als «Tschingg» beschimpft hatte. Und wo er dann doch vor über 30 Jahren seinen Laden aufmachte, diesen kleinen, etwas altmodischen Laden in der Klybeckstrasse. Einer dieser Läden, bei denen man nie genau weiss, ob sich dahinter jetzt ein Laden oder eine Geldwäscherei verbirgt. «Technische Orthopädie Navarra» steht in Lettern über dem Schaufenster, darin Schuhe, die so aussehen wie orthopädische Schuhe halt aussehen.
Geschichten vom Calzolaio
Dabei weiss Herr Navarra, wie man die kostbarsten Damenschuhe schustert, von Hand genäht, eine unglaubliche Arbeit, wie man sie nur durch mühevollen Fleiss erlernt. Die schönsten Schuhe kann dieser Calzolaio nähen, und dazu die schönsten Geschichten erzählen. Wie die, die er jetzt gerade erzählt hat, seine Lebensgeschichte. Zu der sich jetzt noch – erstmals öffentlich – das grosse Geheimnis gesellt.
Der Keller.
Aber der Reihe nach. Es fing an mit einer E-Mail, geschrieben von Navarras Tochter Katja. Der Laden an der Klybeckstrasse werde demnächst geschlossen, nach einem gefühlten Jahrhundert würde ihr Vater in Rente gehen. Bevor das geschah, wünschte sich Katja aber, dass jemand die Geschichte des Ladens ihres Vaters aufschrieb, damit sich die Menschen auch nach Ladenschluss noch an ihn erinnern können.
Ihr Vater willigte ein, obwohl er eigentlich keine Aufmerksamkeit sucht. «Die ganze Publicity, dieses Draussen, das brauche ich alles nicht, will ich nicht», wird er später sagen, und man wird dankbar nicken, denn so eine Geschichte bekommt man nicht alle Tage zu hören. So eine Geschichte ist ein Geschenk.
Besuch im Kleinbasel
Also hin zu Herrn Navarra, ins Kleinbasel, wo man zwischen Kiosk und Kebabhaus eine fein klingende Eingangstür aufdrückt und sich der Sekretärin vorstellt. Die nickt, dreht sich um und ruft nach hinten in die mit Glasfenstern vom Raum abgetrennte Werkstatt. «Salvatore!»
Herr Navarra kommt in den Empfangsraum. Er trägt einen fleckigen, weissen Arbeitsschurz, darunter eine Jacke über einem blauen Hemd. Zwei Knöpfe sind geöffnet, um den Hals funkelt ein silbernes Kettchen. Seine Schuhe sind schlicht und schwarz, keine Massanfertigung. Unter dem gepflegten Schnurrbart verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln und die blauen Augen blitzen. «Was willst du hören?»
Herr Navarras Geschichte beginnt mit dem Krieg. Im hübschen Küstendorf Pozzuoli in der Nähe von Neapel sieht der fünfjährige Salvatore, wie die Kampfflugzeuge Bomben abwerfen. Es gibt keine Arbeit, keine Schulen, die Leute verbringen den grössten Teil des Tages in ihren Häusern. Alle leiden Hunger, das Geld für Essen ist knapp, auch für seine Familie.
Also handelt der kleine Salvatore. «Ich wusste schon früh, dass ich mir mein Brot selber finden musste. Zum Glück war ich klein und flink, ein guter Räuber.» Der kleine Junge stiehlt sich sein Essen zusammen und bringt nach Hause, was ihm in die Hände fällt.
Der Wildfang und der Edelmann
Bis Paolo kommt. Paolo Tozzi, Schuhmachermeister aus Neapel. Ein gut aussehender, eleganter Herr, der in edlen Anzügen herumläuft, während um ihn herum die Welt in sich zusammenfällt. Paolo erwischt Salvatore beim Broterwerb und liest ihm die Leviten. «Ich erinnere mich noch genau», sagt Navarra und zeigt auf seine Oberschenkel. «Er nahm mich zwischen seine Beine, schaute mir ins Gesicht und sagte: ‹Du darfst nicht stehlen.› – ‹Wie soll ich denn sonst überleben?›, antwortete ich und er sagte: ‹Wenn du willst, kommst du zu mir.›»
Salvatore will. Also nimmt Paolo den kleinen Wildfang mit nach Hause, wo sich seine Frau Erminia sofort in Salvatore verliebt. Eine wunderschöne Frau sei das gewesen, mit langen blonden Haaren und grossen Augen, die Salvatore oft auf ihren Schoss nahm. «Ich war wie ein Sohn für Erminia und sie wie eine Mutter für mich.»
Ab da fährt Salvatore jeden Tag mit Paolo zur Arbeit. In ihren Taschen zwei belegte Brote, die Erminia zubereitet hat: das Kleine für Paolo, das Grosse für Salvatore. Navarra lacht, er erinnert sich an jede einzelne Zutat. Weissbrot, Butter, Salami, gekochtes Ei, manchmal Salat. Jeden Tag fahren sie die 30 Kilometer nach Neapel in die Schuhfabriken, wo Paolo als Schuhmacher und Berater arbeitet.
Aufwachsen in den Fabriken Neapels
Es gibt ein Bild, sagt Navarra, wo er diese Fabriken gemalt habe. Grosse Räume mit nackten Glühbirnen über robusten Arbeitstischen aus Holz, darum hämmernde und nähende Arbeiter. Ein freundliches, buntes Bild, keine düstere Fabriklandschaft. Inmitten dieser Männer wächst Salvatore auf und lernt von Paolo, wie man Schuhe macht. Ein strenges Handwerk, das seine Spuren hinterlassen hat. Navarra hat die rauen, vernarbten Hände eines Handwerkers, unter seinen Fingernägeln leuchten die Blutergüsse, dunkelrot, blau, violett.
Zehn Lehrjahre später ist Salvatore 16-jährig und ausgelernt. Jetzt muss er alleine klarkommen, sagt ihm Paolo und entlässt den Jugendlichen in die Welt. Er soll selbstständig werden, so sein Rat, einen Namen für sich machen. Salvatore stimmt zu. Er hat keine Angst. «Ich bin selbstständig geboren», sagt er und es klingt weder pathetisch noch angeberisch, sondern wie es halt ist: Dieser Mann weiss, wie er an Arbeit kommt.
«Was Paolo damals für mich getan hat, war das grösste Glück meines Lebens.» Seine Stimme stockt. Als er fast 50 Jahre später mit seinem Sohn Luigi Paolo in Neapel besucht – Paolo ist mittlerweile ein vom Alter gezeichneter, kleiner Mann, Erminia ist längt gestorben – da sagt er ihm: «Das ist mein echter Vater.»
Unsympathisches Basel
Nach Basel kommt Navarra zum ersten Mal Ende der Fünfzigerjahre. Der 23-jährige Salvatore bekommt eine Stelle bei Bally in Schönenwerd, als Damenschuhspezialist und Abteilungschef. Er wohnt neun Monate in Basel, bis er beschliesst, das Land wieder zu verlassen: Man nennt ihn «Sau-Tschingg», es ist nicht mehr auszuhalten. Also zieht Navarra weiter, nach Frankreich, nach Österreich, wo eine Freundin auf ihn wartet. Die Wohnung in Basel aber behält er. Nicht etwa weil er das so will, sondern weil seine Vermieterin darauf besteht. Frau Toggenburg.
Frau Toggenburg! Navarra lacht. Drei Söhne, ein Mann, und schwer verliebt in Salvatore. Als er ihr eröffnet, dass er das Land verlassen will, stellt sie sich quer. «Ich werde dich an den Ohren zurückziehen!», droht sie ihm, Salvatore geht trotzdem. Es folgen Stationen in ganz Europa, er arbeitet als freier Designer für Damenschuhe und verkauft seine Kreationen an Schuh-Unternehmer.
Frau Toggenburg aber bleibt dran. Nirgends würde er so viel wie in der Schweiz verdienen, trichtert sie ihm regelmässig ein, und als sie ein paar Jahre später von einem leeren Geschäft in der Hammerstrasse hört, packt sie die Gelegenheit beim Schopf. Navarra hat mittlerweile ein Diplom in Orthopädietechnik, er willigt ein. In ihrem Namen eröffnet er das Geschäft.
Und jetzt – das Geheimnis
Es vergehen zehn Jahre an der Hammerstrasse, dann will Salvatore was Grösseres und zieht in die Klybeckstrasse. «Technische Fussorthopädie Navarra». Er schaut auf. Und jetzt ist er hier. «Jetzt bin ich hier, ja. Und jetzt zeige ich dir noch meinen Keller.»
Eigentlich will man ihn noch fragen, wie das Kleinbasel sich verändert hat, Anekdoten hören, wissen, was mit Frau Toggenburg passiert ist. Aber Salvatore Navarra hat genug Leben erzählt. Er steht langsam auf und geht die kleine Treppe links im Laden hinunter. «Komm, schau!»
Calzolaio Navarra ist nämlich eigentlich gar kein Schuhmacher. Calzolaio Navarra ist ein Künstler.
An jeder Wand des kleinen Kellerraums hängen Ölbilder. Riesige, bunte Malereien, die das Leben des Schuhmachers zeigen: Die blauen Buchten von Pozzuoli, arbeitende Fischer, stillende Mütter, strickende Nonnas, Salvatore als erwachsener Mann, als alter Mann. Und die Frauen. Die Frauen! Herr Navarra lacht. Er liebt die Frauen! Sie nehmen den meisten Platz an den Wänden ein, allen voran Ana Maria. Navarra erklärt zärtlich jedes Bild von ihr, erzählt, wie sie sich kennengelernt haben, wie ihr Sohn geboren wurde. Und zeigt dann auf Bilder seiner anderen Kinder, alles wunderbare, talentierte, liebe Kinder. Er lächelt. Wenn das vorher Navarras Leben war, dann ist das hier Navarras Seele.
Über zwanzig Jahre hat niemand ausser Navarras Familie diese Bilder gesehen. Sie erzählen ein Leben, wie es Worte nicht können, nie können werden. Weisst du, wie wertvoll das hier alles ist, Salvatore? Für dich, für deine Familie. Für mich, dass du mir das alles zeigst? Er putzt seine Brillengläser. Ich habe es meiner Tochter versprochen.
Auf einem Bild hinten in einer Ecke des Raumes sitzt Salvatore im Schneidersitz und schaut aus dem Bild heraus. Er hat graue Haare, viele Falten, ist weiss gekleidet. Um ihn herum leuchtet es. Orange, pink, rosa. Das Licht kommt aus ihm heraus, es umgibt ihn wie eine Gloriole. Seine Augen lachen, die Augenbrauen sind nach oben gezogen. Er sieht sehr glücklich aus. Am unteren Bildrand hat Navarra einen weissen Zettel in den Rahmen geklemmt: «S. Navarra, 104 Jahre. Leben nach dem Tod.»