Als Peter Zeidler am 22. August zum FC Sion kam, kannte fast niemand den Deutschen. Doch dann führte er die Walliser unerwartet und mit spektakulärem Spielstil vom letzten auf den 3. Platz.
Peter Zeidler ist ein freundlicher Mensch. Er entschuldigt sich, weil er zum Gesprächstermin mit der Nachrichtenagentur sda zwei Minuten zu spät in der Lobby des Hotels «Porte d’Octodure» in Martigny erscheint. Der Deutsche aus Baden-Württemberg ist von seinem Wohnort Riddes mit dem Velo gekommen. 15 km in der klirrenden Kälte eines glasklaren Walliser Winternachmittags. Der Gesprächsbeginn zögert sich noch etwas hinaus. Denn wer den 54-jährigen Zeidler in der Eingangshalle des Hotels sieht, will auch noch ein paar Worte mit ihm wechseln. Ihm ist das fast ein wenig peinlich. Zeidler will sich selbst partout nicht im Mittelpunkt des Aufschwungs des FC Sion sehen. Aber es gefällt ihm trotzdem, wie sich die Menschen in der Region mit dem Verein identifizieren.
«Der FC Sion ist ein ganz wichtiger Bestandteil des gesamten Kantons. Das hätte ich so nicht erwartet. Die Leute sind leidenschaftlich und emotional, und sie lassen uns dies spüren. Ich bin stolz darauf, dass wir bereits wieder mehr als 10’000 Fans im Stadion haben. Das Feuer brennt bei den Menschen, aber das bringt auch eine Verpflichtung mit sich. Wir müssen fleissig sein und dürfen nicht still stehen. Ich spüre die hohe Erwartung. Hier geht nichts über den Fussball. Über ihn kommt man im Wallis mit allen Menschen in Kontakt – fast wie in Deutschland, wenn es um Bayern München, Schalke oder Dortmund geht.»
Das Wallis und der FC Sion sind für Peter Zeidler eine neue Welt. Er war Assistent von Ralf Rangnick bei der TSG Hoffenheim. Vor seinem Engagement in Sitten war er mehrere Jahre bei Red Bull Salzburg engagiert. Beides Klubs, die von Milliardären hoch gezüchtet wurden. Im Vergleich dazu haftet dem FC Sion etwas Provinzielles an, vielleicht sogar etwas Amateurhaftes. Doch so würde sich Zeidler nie äussern. Er kehrt es ins Positive. Wenn er vom FC Sion spricht, fallen oft Worte wie «warm» und «sympathisch». Bei Hoffenheim und Salzburg dagegen steht ein anderer Ausdruck im Vordergrund: «das Projekt».
«Wir gehen beim FC Sion einen ganz sympathischen und besonderen Weg. Es hat hier nun mal nicht zehn Plätze, davon vier beheizbar, und acht Platzwarte. In Salzburg hatte ich immer einen Ernährungsberater an meiner Seite. Bei Sion gibt es einfach ein gemeinsames Frühstück, vielleicht essen wir zusammen zu Mittag. Aber das macht die Aufgabe hier umso sympathischer. Wir sind ganz nahe bei den Leuten. Das andere muss Schritt für Schritt kommen, auch wenn es ein langer Weg ist. Christian Constantin und ich machen uns Gedanken, wie wir infrastrukturell weiterkommen. Ich bin ganz klar für das alte Freiburger Motto: Nicht nur in Beine investieren, sondern auch in Steine.»
Peter Zeidler ist ein Trainer mit Visionen. Das ist seit über 30 Jahren so. Seit seinen Anfängen als Junioren-Trainer bei seinem Heimatverein VfB Stuttgart. Als ausgebildeter Französischlehrer auf Stufe Mittelschule liegen ihm Pädagogik und Didaktik nahe. Er versucht, seine Teams mit System voranzubringen, diesen seine Ideen anschaulich zu vermitteln. Dabei achtet Zeidler aber auch darauf, sich selbst weiterzuentwickeln. Er ist sich deshalb nicht zu schade, nach links und rechts zu schauen und die Arbeit seiner Kollegen zu beobachten. Wie zuletzt im Trainingslager in Spanien, als der FC Sion die Anlage mit René Weilers Anderlecht und mit Schachtar Donezk und seinem portugiesischen Trainer Paulo Fonseca teilte.
Sammeln von Ideen
«In den Achtzigerjahren haben wir in Stuttgart angefangen mit Viererkette zu spielen. Das haben auch nicht wir erfunden. Wir schauten auf Arrigo Sacchi bei Milan oder Waleri Lobanowski bei Dynamo Kiew. Sie waren damals der Zeit voraus. Heute ist Pep Guardiola ein stilprägender Trainer, auch wenn er ab und zu übertreibt, weil er das Spiel als Trainer gewinnen will. Ich bewundere auch Thomas Tuchel von Borussia Dortmund. Wir haben während der Ausbildung gemeinsam viel Zeit verbracht. Er hat etwas Geniales, deshalb schaue ich genau hin, wie sein Team die Angriffe auslöst. Oder ich analysiere Napoli zusammen mit meinem Assistenten Bruno Pasquale, der ein grosser Fan der Italiener ist. Napoli hat einen kreativen Trainer. Sie spielen aggressiv nach vorne, behalten aber viele Elemente der italienischen Schule bei. Aber ich kann auch von den Trainern in der Super League viel lernen und bin beeindruckt von der Organisation von Thun oder Vaduz. Doch ich will auf keinen Fall irgendeinen Trainer oder Spielstil kopieren oder imitieren. Es geht mir um das Sammeln von Ideen.»
Beim FC Sion hat Zeidler seine Ideen schnell in Punkte umwandeln können. Unter ihm gewannen die Walliser acht von 13 Spielen. Teilweise spektakulär mit einem Schnitt von 2,53 Toren pro Spiel. Zeidler übernahm das Team am 22. August auf dem letzten Platz. Zwei Monate später war der FC Sion Zweiter, zur Winterpause ist er Dritter.
Grosses Lob für Salatic
«Wir spielen viel Pressing. Ich habe den Weg aufgezeigt, aber dann hat es die Mannschaft zu ihrer Sache gemacht. Sie ist überzeugt von der Art, wie wir spielen. Wir haben beim FC Sion im Training zum Teil die Intensität, wie ich sie damals bei Hoffenheim erlebt habe, als wir in der Bundesliga Wintermeister wurden. Besonders loben muss ich Veroljub Salatic. Ich hatte viel Negatives gehört von ihm. Es gab Leute, die haben mir gesagt: Den musst du ausmustern. Gott sei Dank habe ich ihm eine Chance gegeben. Seine Leistungen im Herbst waren vielleicht mein grösster Erfolg. Er ist ein Stratege, er gibt immer Vollgas und verkörpert unsere Spielweise. Salatic ist ein Vorbild für die Jungen. Er gibt ihnen Tipps, aber er macht es aufmunternd und unterstützend. Ich habe noch nie so einen Profi gesehen. Er identifiziert sich voll mit der Sache und dem Klub. Chapeau!»
Im Herbst hat Zeidler eine ganze Reihe weiterer Spieler zu Leistungsträgern gemacht, die sich zuvor aus irgendwelchen Gründen auf irgendwelchen Irrwegen befanden: der rechte Aussenverteidiger Nicolas Lüchinger etwa oder den zum Mittelfeldspieler umgeschulten Stürmer Grégory Karlen. Oder die Flügel Carlitos und Chadrac Akolo. Einen jedoch hat Zeidler kurz vor dem Durchbruch verloren: Ebenezer Assifuah wechselte zum Bedauern des Trainers zu Le Havre in die Ligue 2 von Frankreich. Das sei «ein grosser Verlust, auch wenn der Präsident das nicht gerne hört.» Ohnehin, der Präsident. Christian Constantin ist fordernd, verlangt etwa, dass der 21-jährige Akolo in der Rückrunde zwölf Tore schiesst. «Er schafft das, sofern du gut arbeitest», wie er zu Zeidler gesagt hat. Der Trainer nimmt es locker. Der Präsident dürfe das, und es freue ihn als Trainer auch, wenn der Chef ihm und dem Team viel zutraue.
«In taktischen Fragen bringt sich Constantin kaum ein. Aber er will vor einer Partie genau wissen, wie wir spielen wollen. Er lässt uns arbeiten, aber er will sich von meinen Ideen auch überzeugen lassen. Auf Gespräche mit ihm muss man exakt vorbereitet sein. Das ist sein Klub, seine Sache, seine Spieler, seine Region. Man spürt seine Leidenschaft. Er kennt die Mannschaft in- und auswendig. Er weiss alles – auch, was die Jungen in der Schule leisten. Er ist beseelt vom Spiel an sich: 1988 fand in Stuttgart der EM-Halbfinal zwischen Italien und der Sowjetunion statt. Das von Milan geprägte Italien gegen das sowjetische Dynamo Kiew von Lobanowski. Das Spiel war stilprägend. Das war moderner Fussball total. Und Christian Constantin ist mit seinem Ferrari in Rekordzeit hingerast, um sich das Spiel anzuschauen. Oder eine andere Anekdote: Kaum war ich hier, hat mir Constantin ein Interview ausgehändigt von Rinus Michels (früherer Trainer der Niederlande, Ajax Amsterdam und FC Barcelona – Red.) aus dem »L’Equipe Magazine« aus den Siebzigerjahren. Doch, er hat schon die Kompetenz, um mit einem Trainer über Fussball und Taktik zu reden.»