Der FC Sion kommt heute gegen Liverpool zum dritten Matchball, um in die 1/16-Finals der Europa League vorzustossen. Schon mit einem Remis überwintern die Walliser erstmals seit 1986/87 europäisch.
Vor exakt zwölf Monaten steckte der FC Sion in einer Depression fest. Die Mannschaft war nach Abschluss der Vorrunde Zweitletzter in der Super League. Sie war nach diversen Trainerwechseln führungslos in akute Abstiegsgefahr geraten. Ein Jahr später sieht die Gegenwart positiv aus: Die Walliser sind Cupsieger und auf bestem Weg, erstmals seit 29 Jahren (und zum zweiten Mal in der Klubgeschichte) auch im Frühjahr im Europacup vertreten zu sein. Holen die Sittener gegen den FC Liverpool, der bereits für die 1/16-Finals qualifiziert ist, mindestens einen Punkt, sind sie weiter. Verlieren sie, können sie noch darauf hoffen, dass Rubin Kasan in Bordeaux nicht gewinnt.
Die Euphorie im Wallis ist entsprechend riesig. Das Tourbillon ist mit 10’000 Zuschauern längst ausverkauft. Am Sonntag im Cup-Viertelfinal gegen den FC Basel werden sogar noch mehr Leute im Stadion erwartet. Es bleibt abzuwarten, ob die Mannschaft – ähnlich wie in einem Cupfinal – im entscheidenden Moment fähig ist, über sich hinauszuwachsen. Die Leistungen der letzten Wochen geben eher wenig Anlass zu Hoffnung. Sion hat seit Anfang November nur eines von sieben Pflichtspielen gewonnen und in dieser Zeitspanne ganze fünf Tore erzielt.
Die Ausgangslage vor den beiden «wichtigsten Spielen der Saison» (Christian Constantin) ist besser als der Formstand, die Fallhöhe entsprechend gross: Am Sonntagabend könnte der FC Sion mit leeren Händen dastehen: ausgeschieden in Cup und Europacup, distanziert in der Meisterschaft. Die ungewöhnliche Ruhe im Klub soll dann trotzdem bestehen bleiben. Gemäss Präsident Christian Constantin steht Trainer Didier Tholot auch im Falle des doppelten Misserfolges nicht zur Diskussion. «Die Resultate dieser beiden Spiele haben keinen Einfluss darauf, ob Tholot Trainer bleibt oder nicht», so Constantin.
Tholot ist seit Anfang Jahr im Wallis tätig. Constantin hat ihn nach 2003 und 2009 zum dritten Mal als Trainer engagiert. In den Neunzigerjahren war Tholot zudem Spieler im FC Sion. Nun sitzt er so sicher auf dem Trainerstuhl wie keiner seiner Vorgänger unter Constantin, obwohl sein Team in den letzten Wochen nicht geglänzt hat. Dass die Resultate in der Super League unter den Erwartungen geblieben sind, hat für einmal auch Constantin nicht gestört. Priorität hatten und haben in diesem Herbst der Cup und der Europacup.
Aber weshalb hielte Constantin an Tholot auch dann fest, wenn Sion doch noch vor Weihnachten in beiden Wettbewerben scheitern sollte? Constantin: «Er arbeitet hart. Und er war nicht schuld an den Resultaten der letzten Wochen. Wir hatten oft Pech und manchmal auch schlechte Schiedsrichter», sagte Constantin. Der Präsident ist geduldiger geworden, sagen sie im Wallis. Die Lokalzeitung «Le Nouvelliste» schrieb auch schon von «Altersmilde».
Vielleicht sieht Constantin aber auch, was er in seinem Verein lange genug nicht gesehen hat: nämlich ein Team mit einer Handschrift. Tholot hat die Defensive stabilisiert. Mit der Beförderung von Reto Ziegler vom Aussenverteidiger zum Abwehrchef ist ihm ein taktischer Coup gelungen. Die Mannschaft ist von vorne bis hinten gut strukturiert und organisiert. Die bloss fünf Gegentore in den fünf Europa-League-Spielen gegen Rubin Kasan (2:1, 0:2), Bordeaux (1:0, 1:1) und Liverpool (1:1) sind ein beachtlicher Wert.
Doch womöglich haben Constantins neue Verhaltensmuster auch einfach nur mit der eigenen Eitelkeit zu tun. Nachdem der streitbare Architekt aus Martigny vom Publikum jahrelang angefeindet worden war, ist die Stimmung im Wallis in den letzten Monaten zu seinen Gunsten gekippt. Als die Sittener im Juni auf der «Place de la Planta» den Cupsieg feierten, erhielt Constantin mehr Applaus und erfuhr von den Fans mehr Zuneigung als die Spieler und der Trainer.
Constantin schert sich nur vordergründig nicht um sein Rating in der Öffentlichkeit. Deshalb will er nicht zum dritten Mal den Kardinalsfehler begehen und einen äusserst populären Trainer ohne Not und nur aus einer temporären Enttäuschung heraus abservieren, wie er es mit Jean-Paul Brigger (1992) und Sébastien Fournier (2012) getan hatte. Mit einem Rauswurf des beliebten Tholot ist daher auch im Misserfolg für einmal eher später als früher zu rechnen.