Skiferien in Mürren: Wunderbar langweilig

Autofrei. Stressfrei. Ereignisfrei. Dürften Sozialdemokraten einen Skiort nach ihren Idealen designen, er wäre so wie Mürren.

Mürren.

(Bild: Renato Beck)

Autofrei. Stressfrei. Ereignisfrei. Dürften Sozialdemokraten einen Skiort nach ihren Idealen designen, er wäre so wie Mürren.

Aufgestanden kurz nach acht. Kapselkaffee auf dem weitläufigen Balkon getrunken. Blick auf den Rücken der Jungfrau. Mit dem Feldstecher die Bergwand abgesucht. Zigarette dazu geraucht. Jacke übergestreift, im Coop aufgebackene Croissants geholt. Gesellschaftsspiel «Lifestyle – bringt Ihren Lebensstil ins Spiel» in der Bücherwand entdeckt und zurückgelegt, weil die Mindestanzahl an Spielern zwei beträgt. Dominosteine aufgereiht und umgestossen. Dominosteine über ein Hindernis gebaut und umgestossen. Mit dem Feldstecher nach Bergsteigern gefahndet. 

Schon Mittag?

Jacke übergestreift und in die benachbarte «Sager-Stube» gegangen. Dort eine grosse Apfelschorle bestellt und eine Portion Rösti mit Zwiebelsauce und aufliegender Kalbsbratwurst. Blick auf den Nachbartisch, wo ein Mädchen eine Portion Pommes frites isst und ihr kleiner Bruder ein Knoblauchbrot.

Mittagsschlaf einer Verschwörung von Alpensonne und Bodenheizung zum Opfer gefallen, schweissnass aufgewacht. Die Thermostrumpfhose montiert, darüber eine schneefeste Hose geschichtet, in die winterschuhartigen Sommerschuhe geschlüpft. Im benachbarten Sportgeschäft einen Familienschlitten ausgeliehen und zur Allmendhubelbahn hochgeschleppt. Der Juckreiz in der Thermostrumpfhose eskaliert.

Schwere verwandelt sich in Kraft

Herrliches Winterwetter. Schlitten oben auf dem Allmendhubel zum «Bob Run» geschoben. Kräftig abgestossen, ein paar Zentimeter gefahren, dann stehengeblieben. Den tauenden Schnee als Verantwortlichen für die Bremswirkung ermittelt. Den «Bob Run» nicht abgerannt oder abgefahren, sondern abgegangen.

Herrliche Winterlandschaft, sobald der Schlittelweg aus dem Wäldchen die offene Flanke des Schilthorns kreuzt, an verstreuten Chalets vorbeiführt. Mit dem Familienschlitten nehmen auch die Skiferien Fahrt auf, die Schwere verwandelt sich in Kraft, in Leichtigkeit und Tempo.

In einer scharfen Kurve mit dem lastwagenartigen Familienschlitten den «Bob Run» verlassen und in hüfttiefem echtem Schnee steckengeblieben. Mich mit den winterschuhartigen Sommerschuhen den Schneeberg hinaufgearbeitet. Einen Bauernhof mit Kuhstall entdeckt und den Kühen dabei zugesehen, wie sie sich von riesigen, elektrisch betriebenen Fellbürsten den Rücken kraulen lassen. Mich an der Wonne dieser wunderbar angeödeten Tiere erfreut. 



Klein Beck in Mürren.

Wunderbar angeödete Wiederkäuer vor berühmtem Berg – auch das ist Mürren. (Bild: Renato Beck)

Späte Rückkehr nach Mürren, nachdem die Sonne die Bergkämme längst überquert hat. Rückkehr in diese autofreie, après-Ski-freie, ereignislose, sozialdemokratische Skiferien-Utopie. Abends den Kamin kräftig eingeheizt. Stapelweise Holzscheite verfeuert. Mit dem Feldstecher in die Fenster der Chalets und die Leben der Touristen gespäht. Sterne, Rugenbräu, Zigaretten, Rotwein, drei Folgen «The Hour». Pistazien aus der Familienpackung.

Endlich zu Bett gegangen, formidabel gelangweilt und befriedigt, den ersten Ferientag in Mürren nach Möglichkeit ausgekostet zu haben.

Tag zwei: Tausche Bratwurst mit Raclette. Und Schlitteln mit Schlittschuhlaufen.
Tag drei: Die Bratwurst kommt wieder ins Spiel. Schneemannbauen hinzufügen.

  • Wurst
    Gehört zum Inventar in Mürren. Zum besten Ausblick serviert auf der Terrasse des «Bellevue». Auch sonst eine grundsympathische Beiz.
  • Wucher
    105 Franken hin und zurück knöpfen sie einem für die Fahrt vom Talboden bis auf den Gipfel des Schilthorns ab. Nur weil George Lazenby da oben mal schauspielerte.
  • Wunderbar
    Ist der freie Blick auf das gegenüberliegende Jungfrau-Massiv. Unbedingt eine Ferienwohnung mit unverstellter Aussicht buchen. Sonst erst gar nicht anreisen.

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