Mehr Dramatik und mehr Schweizer Erfolg geht fast nicht. Luca Aerni wird in St. Moritz mit einem Hundertstel Vorsprung auf Titelverteidiger Marcel Hirscher Weltmeister in der Kombination.
Er stand in der Leader-Box. Unverhofft lange hielt er sich schon in der Zone auf, die für den Führenden reserviert ist. Und je länger er dort stand, desto mehr durfte er mit dem Gedanken spielen, etwas ganz Grosses geschafft zu haben. In Sicherheit konnte und wollte er sich nicht wiegen. Er habe regelrecht gezittert, erzählte Luca Aerni später. «Ich war noch nie so nervös. Das war ganz schlimm.»
Mit Fortdauer des Slaloms sei langsam Hoffnung aufgekommen, dass es womöglich für eine Medaille reichen könnte. «Daran geglaubt habe ich aber nicht.» Noch hätten zu viele Abfahrer oben gestanden, die in der Zwischenrangliste mit grossem Vorsprung vor ihm gelegen seien.
Doch Aernis Zeit hielt allen Angriffen stand. Als auch der Österreicher Romed Baumann, der als Schnellster in der Abfahrt 2,61 Sekunden vor dem Berner gelegen hatte, deutlich über dessen Bestmarke blieb, waren die Überraschung und der dritte Schweizer Titelgewinn in St. Moritz perfekt.
Von 30 auf 1
Aerni hatte an diesem denkwürdigen Tag das Hundertstel-Glück gleich zweimal auf seiner Seite. Mit sechs Hundertsteln Vorsprung auf Rang 31 hatte er nach der Abfahrt Platz 30 eingenommen. Das bedeutete die Startnummer 1 für den einen Slalom-Lauf und den Vorteil einer perfekten Piste. Der Mann mit dem schnellen Schwung, packte die Chance beim Schopf, fuhr Bestzeit und distanzierte Hirscher mit einer phänomenalen Leistung um 32 Hundertstel, was in der Endabrechnung den einen Hundertstel Vorsprung ergab.
Ausgerechnet Aerni, den die Trainer als letzten der vier Schweizer Fahrer für die Kombination selektioniert hatten, sorgte damit für einen weiteren goldenen Schweizer Tag im Engadin. Chefcoach Thomas Stauffer und seine Kollegen hatten Aerni den Vorzug gegenüber Niels Hintermann und Nils Mani gegeben.
Der Traum von Juventus Turin
«Das ist alles noch nicht real für mich», sagte Aerni im Zielraum. «Es kommt mir vor wie im Traum.» Geträumt hatte er schon als kleiner Junge, als er noch Torhüter bei den Junioren des FC Grosshöchstetten war. Damals, als seine Leidenschaft für den Fussball und das Skifahren noch gleich gross war, hatte er den Traum, bei Juventus Turin in Italien zu spielen.
Für den Fussball blieb wegen des zunehmenden Trainingsaufwandes für den Skirennsport schon bald keine Zeit mehr, Grosshöchstetten ist aber nach wie vor seine Heimat. In die Berner Gemeinde war er als Vierjähriger nach einem Stellenwechsel seines Vaters zum Sportartikelhersteller Salomon gezogen. Bis dahin hatten die Aernis im Wallis in der Umgebung von Crans-Montana gewohnt.
Die Hundertstel-Entscheidungen zu seinen Gunsten sieht Aerni als ausgleichende Gerechtigkeit für das fehlende Glück im bisherigen Winter. In acht Slaloms schied er viermal aus – unter anderem in Madonna di Campiglio auf dem Weg zu seinem ersten Podestplatz im Weltcup. «Irgendwann kommt alles zurück.»
Aerni sprach damit Mauro Caviezel aus der Seele. Der so oft verletzte Bündner darf die Bronzemedaille getrost als verdienten Lohn für seine Beharrlichkeit betrachten. «Ein solcher Tag entschädigt für vieles, was in der Vergangenheit war», sagte der ältere der zwei Caviezel-Brüder, der wie Aerni noch nie auf einem Weltcup-Podest stand. Justin Murisier und Carlo Janka, denen am ehesten ein Medaillengewinn zugetraut worden war, rundeten mit den Rängen 6 und 7 das grandiose Ergebnis der Schweizer Equipe ab.
Die Erinnerung an Beaver Creek
Für Hirscher war die knapp verpasste Titelverteidigung das Spiegelbild des Winters. «Diese Hundertstel rauben mir den letzten Verstand.» Neunmal schon wurde er Zweiter, dreimal davon mit ganz geringem Rückstand. Dass sich beim Salzburger die Begeisterung über Rang 2 vorerst in Grenzen hielt, war deshalb verständlich. Dabei hätte es Hirscher kommen sehen müssen. Vor zwei Jahren an der WM in Beaver Creek war er ebenfalls von Platz 30 nach der Abfahrt zum Titel gefahren. Auch Aerni hatte sich daran erinnert. Die Anspannung hielt beim Berner trotzdem an. Erst Hirschers Landsmann Baumann brachte die Erlösung.