So stark wie schon lange nicht mehr

Mit Giulia Steingruber und erstmals seit 1992 wieder mit dem Männer-Team ist der Schweizer Turnverband bei Olympia so stark vertreten wie schon lange nicht mehr. Eine Medaille ist nicht unrealistisch.

Schweizer Medaillenhoffnung in Rio de Janeiro: Giulia Steingruber (Bild: sda)

Mit Giulia Steingruber und erstmals seit 1992 wieder mit dem Männer-Team ist der Schweizer Turnverband bei Olympia so stark vertreten wie schon lange nicht mehr. Eine Medaille ist nicht unrealistisch.

Die Luft an der Weltspitze ist dünn. Das weiss Giulia Steingruber aus eigener Erfahrung. Die Doppel-Europameisterin von Bern ist mit acht EM-Medaillen die erfolgreichste Turnerin an kontinentalen Titelkämpfen in dem zu Ende gehenden Olympia-Zyklus. Zu einer WM-Medaille hat es der 22-jährigen St. Gallerin bislang aber noch nie gereicht.

Dennoch hat Steingruber Chancen, als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille zu gewinnen; nicht am Sprung, an dem sie dreimal EM-Gold gewonnen hat, sondern am Boden, dem Königsgerät der Frauen. Obwohl sie wegen einer leichten Bänderverletzung am Fuss in der Vorbereitung am Boden vorübergehend nur reduziert trainieren konnte, gehört sie mit ihrer neuen Übung, mit der sie überlegen EM-Gold holte, in Rio zum Kreis der Medaillenanwärterinnen.

Auch am Sprung strebt Steingruber die Final-Qualifikation an, die Konkurrenz an ihrem einstigen Paradegerät ist über die Jahre aber immer stärker geworden. Mehr als ein halbes Dutzend Turnerinnen dürfen sich Medaillenhoffnungen machen. Bereits das Erreichen der Top 8 ist für die Europameisterin keine Selbstverständlichkeit. Steingruber wird in der Qualifikation dasselbe Programm wie in Bern zeigen. Ihren neuen Sprung, den Tschussowitina mit einer zusätzlichen halben Schraube, lässt sie sich als Option für den allfälligen Final offen.

Für Steingruber ist es die zweite Olympia-Teilnahme nach London 2012. Im Mehrkampf war sie gute 14. geworden, den Sprung-Final verpasste sie wegen eines Sturzes knapp, weswegen sie mit Olympia noch nicht im Reinen ist. Von den Erfahrungen von London kann Steingruber in Rio profitieren: «Damals brachte ich den Mund fast nicht mehr zu. Aber man darf sich von der Grösse nicht beeindrucken lassen.»

Inzwischen gehört die WM-Fünfte von Glasgow auch im Mehrkampf zur Weltspitze. «Sie ist nun etabliert, erwachsener und reifer geworden», sagt Trainer Zoltan Jordanov über die Vorzeigeathletin des STV. Die Übung am Schwebebalken hat Steingruber aufgrund ihrer Stürze an der EM leicht verändert, am Stufenbarren hat sie weiter an der Ausführung gefeilt. «Platz 6 oder besser», lautet die Zielsetzung.

Topfavoritin auf Mehrkampf-Gold ist Simone Biles. «Sie ist die beste Turnerin, die es seit Jahrzehnten gegeben hat», sagt Steingruber über die Mehrkampf-Weltmeisterin der vergangenen drei Jahre. Konkurrenz erhält die 19-jährige Amerikanerin in erster Linie aus dem eigenen Lager: von der 16-jährigen Laurie Hernandez, von Gabrielle Douglas, der Mehrkampf-Siegerin von London 2012, oder von Alexandra Raisman. Im Team-Wettkampf wird den USA der Titel kaum zu nehmen sein.

Ende des Wartens

Die Schweizer Männer sind erstmals seit 1992 mit einem Team an Olympischen Spielen vertreten. Nationaltrainer Bernhard Fluck nominierte für Rio dieselbe Mannschaft, die Ende Mai in Bern mit Bronze, der ersten EM-Team-Medaille für den STV, Geschichte geschrieben hat. Die Zielsetzung von Captain Pablo Brägger, Christian Baumann, Benjamin Gischard, Oliver Hegi und Eddy Yusof für ihre Olympia-Premiere ist klar: das Erreichen des Team-Finals.

Wer und wie viele Athleten in der Qualifikation den Mehrkampf bestreiten werden, wird kurzfristig vor Ort entschieden. Christian Baumann, der EM-Achte von 2015, war in der Vorbereitung durch eine Entzündung am rechten Handgelenk handicapiert, Oliver Hegi hatte an den Schweizer Meisterschaften Ende Juni überzeugt, Captain Pablo Brägger belegte an den letzten Weltmeisterschaften in Glasgow Platz 13.

Die besten Chancen, als erster Schweizer seit Andreas Schweizer 2004 einen Gerätefinal zu erreichen, hat Pablo Brägger am Reck. «Ich habe noch eine Rechnung offen», sagt der 23-jährige Ostschweizer, nachdem ihn ein Fehler im EM-Final in Bern eine Medaille gekostet hatte. Brägger gehört am Königsgerät zu der vom niederländischen Olympiasieger Epke Zonderland angeführten Weltelite. «Jeder träumt davon, eine Olympiamedaille zu gewinnen», so Brägger. Die letzte eines Schweizers gewann Donghua Li 1996 mit Gold am Pauschenpferd in Atlanta.

Neben Brägger dürfen sich auch Oliver Hegi (Reck, Pauschenpferd), Christian Baumann (Pauschenpferd, Barren) und Benjamin Gischard (Sprung) leise Hoffnungen auf den Einzug in einen Gerätefinal machen.

Der Mann, den es in Rio zu schlagen gilt, ist einmal mehr Kohei Uchimura. Der 27-jährige Japaner gewann als erster Turner der Geschichte an sechs Weltmeisterschaften in Folge Gold im Mehrkampf. Seine letzte Niederlage an einem Grossanlass kassierte Uchimura 2008 an den Olympischen Spielen in Peking. Im Teamwettkampf deutet alles auf ein weiteres Duell zwischen Weltmeister Japan und Olympiasieger China hin.

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