Solothurn 6: Verliebte Feinde

Nicht zufällig eröffnet der Film «Verliebte Feinde» fast mit einem «Titanic»-Zitat. Im Meerwind steht Iris von Roten an einer Schiffsreling, mit Blick in die Zukunft – allein. «In Amerika gehöre ich wieder ganz mir selbst». Während ihr Mann, der katholische Adelige Peter von Roten, zu Hause auf dem Soziussitz seiner Iris die Emanzipation des Mannes […]

Nicht zufällig eröffnet der Film «Verliebte Feinde» fast mit einem «Titanic»-Zitat. Im Meerwind steht Iris von Roten an einer Schiffsreling, mit Blick in die Zukunft – allein. «In Amerika gehöre ich wieder ganz mir selbst». Während ihr Mann, der katholische Adelige Peter von Roten, zu Hause auf dem Soziussitz seiner Iris die Emanzipation des Mannes erst einmal theoretisch lebt, lernen wir in den dokumentarischen Interviews Iris von Rotens Weg aus der engstirnigen, frauenfeindlichen Schweiz in ihren eigensinnigen utopischen Lebensentwurf  jener Zeit kennen. Die Spannung, die «Verliebte Feinde» erzeugt, ist am stärksten dem unglaublichen Sog von Aktualität geschuldet, der von Iris von Rotens Leben ausgeht.

«Frauen im Laufgitter», ihr Buch, war anfangs Siebzigerjahre eine geistige Provokation für die Schweiz. Die Frau, die damals Männer wie Frauen mit ihrem weit vor der Zeit gedachten Frauenbild vor den Kopf stiess, wird uns, Bild für Bild, als lebenslustige, tiefsinnige,  sexuell begierige Frau vorgeführt.

Dass Nina Petri und Fabian Krüger diese Figuren der Schweizer Zeitgeschichte nicht wirklich spielen, sondern eher nur andeuten dürfen, liegt an der Konstruktion des Films: Der will nämlich mehr. Nicht nur die hinreissenden Liebesbriefe des Paares hörbar machen, sondern auch das dokumentarische Material in die zeitgenössischen Interviews einbauen, sowie in den Spielszenen über ein Paar phantasieren, das in seiner Art der Zeit weit voraus war.

Grossbürgerkinder, die sie beide waren, konnten sie sich ein Leben frei von Erwerbszwang leisten, gingen ihren Steckenpferden, der Politik, der Publizistik nach. Ihr Kind übergaben sie in eine kinderreiche Familie, weil es «unter Kinder leben soll», wie sie Freunden verrieten, eher als unter Erwachsenen. «Eine Laus mästet sich am Lebenssaft der Rose», sagt die selbstverwirklichungssüchtige Mutter über Kinder.

Er, von der eignen Familie nach der Heirat zum schwarzen Schaf gemacht,  wird 1947 einer der jüngste Nationalräte. Sie zieht es nach Amerika. Dort lebt sie als freie Frau, recherchiert, und schreibt an ihrem Buch. Sie fühlt sich von Kinsey zum weiblichen Gegenpart angespornt, berichtet getreulich von ihren Liebschaften nach Hause, das in der Zwischenzeit am Heuberg in Basel befand.

Der Anwalt von Roten verhandelt in seinen Briefen seine Ängste. Sie eröffnet auch einen ganz neuen sexuellen Diskurs. Beide hören Sie aber nie auf, sich ihre Liebe zu versichern. Das schafft eine zunehmend dichte Atmosphäre eines lebenslang um eine eigene Fassung des Liebesvertrages kämpfendes Paar. Was mit einem Ehevertrag begann, der bis ins Detail alle Freiheiten und jede Gleichberechtigung garantierte, endete in einer zärtlichen Altersliebe der beiden Juristen, bis zur Begleitung in die letzten Dinge – den Freitod (Iris hat ihre Liebesbriefe gesammelt und wünschte sie sich, zu einer Matratze verarbeitet, bei sich im Sarg, um sich mit ihnen verbrennen lassen).

Schade, war der Film mit all diesen wunderbaren Schauspielern nicht als Spielfilm geplant. Trotzdem schafft er auf der Zeitachse eine deutliche Spannungssteigerung, je mehr er sich unseren Tagen nähert. Mit einem Mal wird klar: Hauptperson des Filmes sind wir! Ist unsere Zeit! Da haben uns nämlich zwei schon in den Fünfziger Jahren etwas vorausgedacht – gegen männliche Selbstherrlichkeit und feministisches Spiessertum, und sind daran fast zerbrochen.

Als Kino mag der Film vielleicht nicht ganz zu überzeugen. Als Semidokumentarfilm aber gibt er den Blick frei auf ein zeitgeschichtliches Meisterstück: Wie perfekt die Geschichte manchmal an einer einzigen Biografie die Geschichten des Zeitgeistes preisgibt! Wunderbar! «Verliebte Feinde» schafft das, weil er einfach im richtigen Augenblick das Porträt einer Frau in unsere Erinnerung ruft, die noch vor Jahren zur falschen Zeit das Neue gedacht hat.

«Aber heiraten willst du mich schon? Oder musst du da auch erst deinen Pfarrer fragen?» «Ja.»

«Ja … was?»

 

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