Solothurner Filmtage: Solide Arbeiten, aber wenig Kribbelndes

Jury und Publikum haben an den Solothurner Filmtagen ihre Sieger gewählt. Die Preise gingen an «Spartiates» und «Usfahrt Oerlike». Und sonst? Gezeigt wurden Werke, die niemanden ärgern, möglichst viele erfreuen und alle unterhalten. Die Solothurner Filmtage sind am Donnerstag zu Ende gegangen. Der Schweizer Film zeigte sich in seiner Breite solide. Überraschungen gab es wenige. […]

«Das Deckelbad – Die Geschichte der Katharina Walser»: ein Drehbuch in 20 Jahren gereift – mit Simona Specker.

Jury und Publikum haben an den Solothurner Filmtagen ihre Sieger gewählt. Die Preise gingen an «Spartiates» und «Usfahrt Oerlike». Und sonst? Gezeigt wurden Werke, die niemanden ärgern, möglichst viele erfreuen und alle unterhalten.

Die Solothurner Filmtage sind am Donnerstag zu Ende gegangen. Der Schweizer Film zeigte sich in seiner Breite solide. Überraschungen gab es wenige. Die Jury honorierte einen Dokumentarfilm aus dem sozialen Brennpunkt. Nicolas Wadimoff folgt in «Spartiates» dem Kampfsport-Drill junger Männer in Marseille und liess damit die anderen Favoriten alt aussehen.

Das Publikum wählte ebenfalls seinen Liebling und liess die anderen Bewerberinnen zu jung aussehen: «Usfahrt Oerlike» ist ein reifes Alterswerk zweier Schauspieler von Altmeister Paul Riniker. Für Basel, das auch im Chor der Filmförderer mitsingen will, ist das interessant. Jung und Alt triumphieren, aus Zürich und aus dem Welschland. Die Jury hat mit einem Dokumentarfilm die Fiktion alt aussehen lassen. Mit einem jungen Film. 

Der Film als Zeit- und Sittendokument

Bundesrat Alain Berset bezeichnete das Treffen des Schweizer Films als den «Seismographen Schweizer Befindlichkeiten». Er dürfte damit in erster Linie die Vielfalt meinen.

Die Jubiläums-Querschau des Schweizer Films in Solothurn zeigte viel Breite und ein Jubiläumsprogramm, aus der viele grossartige Regie-Einzelkünstler der letzten 50 Jahre herausragen: Stina Werenfels, Bettina Oberli, Ursula Meier, Fredi Murer, Rolf Lyssy, Alain Tanner, Claude Goretta, Alexander Seiler, Marc Forster, Markus Imhoof etc. Selten hat sie, die Einzelkämpfer, ein Stil vereint. Wie sieht es in diesem Jahr aus?

Welche Befindlichkeit ist in Filmen zu lesen aus jenem Land, in dem pro Kopf am meisten Bahnkilometer der Welt gefahren werden, die höchste Psychiaterdichte der Welt herrscht, dessen User am häufigsten das Internet besuchen und das pro Kopf die höchsten Bussbeträge wegen Straftaten seiner Banken entrichtet? Was hat der Schweizer Film dazu zu sagen?

Eine immer breitere Vielfalt

Nichts Neues, ist man versucht zu sagen. Der Schweizer Film zeichnet sich nach Sichtung der Solothurner Schau dadurch aus, dass er niemanden ärgert, möglichst viele erfreut und alle unterhält – wenn möglich in zwei Sprachen. Selten provoziert er. Selten verstört er. In wenigen Fällen brilliert er.

Der Schweizer Film muss sein durchschnittlich kleinräumiges Zielpublikum vor Augen behalten. Zu klein ist der Absatzmarkt, um einen eigenen ökonomischen Schutzraum bieten zu können: für Provokateurinnen, brillante Eigenbrötler oder Aufrüttler scheint die Schweiz schlicht zu klein zu sein. Ein Schweizer Filmer muss auch mal im Ausland reüssieren (Godard, Forster, Koller) um langfristig aus der inländischen Behäbigkeit zu ragen.

Die Jahreszahlen des Schweizer Films sprechen auch in diesem Jahr von komfortablen Bedingungen. Mehr Produktionen. Mehr internationale Verkäufe. Mehr Koproduktionen mit dem Ausland. Mehr Zuschauer insgesamt. Ohne Förderung wäre das nicht möglich. Ohne Förderung gäbe es auch keine konstant wachsende Qualitätssicherung.

Chartspezialisten unter den Börsianern würden sagen: Das Schweizer Filmschaffen ist im Aufwärtskanal. Swiss Films überzeugen jährlich in Solothurn mit einer breit abgestützten wachsenden Diversität. Der Schweizer Dokumentarfilm gehört zur Weltspitze. Sogar das Interesse Hollywoods ist dadurch – wieder einmal – geweckt. «Der Kreis», als Zwitter, für die Schweiz (oder doch nur für Zürich?) durfte sogar ins Rennen um den Oscar geschickt werden, ebenso wie der Schweizer Kurzfilm «Parvaneh» von der gebürtigen Iranerin Talkhon Hamzavi.

Erfolg ist kein Garant für Konstanz

Aber selbst erfolgreiche Filme sind in der Schweiz zum kommerziellen Scheitern verurteilt. Der Renner des Jahres 2014, «Dr Goali bin ig», hat als bestverkaufter Spielfilm im Land weit über 100’000 Zuschauer erreicht. Reicht das, um ohne Förderung einen solchen Film (Budget 1,6 Millionen Franken) zu produzieren?

In Einzelfällen treffen für einen Kassenschlager bewährte Regisseure auf bewährte Produzenten, die das Risiko mittragen. In der Schweiz können das zum Glück viele sein: Ruth Waldburger, DschointVentschr, Rudolf Santschi, Langfilm und viele andere. Viele Produktionsfirmen können zudem auf eine Zusammenarbeit mit hochkarätigen Regisseuren zurückblicken – etwa mit Sabine Boss, Stina Werenfels oder Xavier Koller.

Die Solothurner Filmtage zeigen auch: Die Qualität wird zwar stetig verbessert, die Breite überrascht immer wieder, die Vielfalt überzeugt – aber selten kommt es zu Spitzenleistungen. Das Filmemachen ist eben immer auch die Kunst, Geld zu verdienen. Das erfordert Kompromisse.

Denkbar spannend das Spiel – denkbar einfach das Drehbuch von «Driften».

Denkbar spannend das Spiel – denkbar einfach das Drehbuch von «Driften».

Erstaunlich am Erfolgsrezept: Hoch liegt die Finanzierungshürde nicht nur für Erstlinge. Erfolgreiche Filmemacher haben in der Schweiz fast ebenso lange Anlaufzeiten für ihre Projekte wie Nobodys: Schweizer Regisseure drehen in der Regel alle fünf (!) Jahre einen Film. Selbst einem der erfolgreichsten, Fredi Murer, ist nicht zu einem höheren Takt verholfen worden. Ein Spitzenskifahrer, der Jahre mit Sponsorensuche für Skier, Schnee und Skischuhe verbringen müsste, um jeweils alle vier Jahre an einer Olympia-Abfahrt hinunterzustürzen, würde da wohl alt aussehen.

Immerhin: Immer rascher gehen im Spielfilm die Türen für die Jungen auf. Ob «Driften» oder «Pause» oder «Bamboule» oder «Chrieg» oder «Deckelbad» – hinter allen in Solothurn gesehenen jungen Filmen stehen entweder mutige Produzenten, die für Stoffe kämpfen, oder Teams, die zu Selbstausbeutung neigen.

Wer aber von den Erfolgreichen nicht wie Sabine Boss («I Vecchi Pazzi») immer wieder mal Fernsehen macht oder wie Markus Fischer («Der Bestatter», als Produzent) Serien oder wie Peter Luisi («Schweizer Helden») Web-Comedy oder wie Bettina Oberli Theater, der gerät da rasch aus der Übung.

Oft ist auf dem Set der Regisseur die Person, die am wenigsten Drehtage pro Jahr hat. Techniker und Kameraleute sind oft durchgehend beschäftigt, haben im letzten Jahr an drei, vier Filmen mitgewirkt. Sie haben Erfahrungen gesammelt, die der Regisseur nicht sammeln kann. Er ist oft der Profi mit den wenigsten Praxistagen pro Jahr.

Wo liegen die Schwachstellen?

Während die Filmindustrie in der Schweiz auf immer solideren Füssen steht, bleibt der Boden für Künstler dünn. Förderung gibt es für Drehbuchautoren, Projekte, Regisseure. Und immer häufiger läuft sie über Produzenten. Reicht das?

Im Kanon der Zweifler und Meckerer, deren Treffpunkt Solothurn auch ist, hat man sich allenthalben darauf geeinigt, dass es das Drehbuch sei, an dem die Qualität kranke. Vor allem in Fördergremien beklagt man die mangelnde Klasse der eingereichten Drehbücher.

Fredi Murer («Liebe und Zufall») bemängelt hingegen die Lesefähigkeit der Fördergremien. Sie würden ein Drehbuch wie einen Film lesen wollen. Aber das Drehbuch sei nie ein Film. Es sei seine Vorstufe.
Stina Werenfels («Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern») hat keine Fördergelder erhalten, obwohl sie als Drehbuch eines der besten Theaterstücke der Schweizer Dramatik einreichte.

Peter LuisiSchweizer Helden») gibt zu bedenken, dass er seinen Film mit seinem grossartigen Team erst in vier Jahren hätte machen können, wenn er alle Änderungsvorschläge von Fördergremien hätte einarbeiten wollen. «Gute Filme lassen vergessen, ob das Buch gut war», sagte einst Ernst Lubitsch.

Drehbuch Wirklichkeit. Der Sieger: «Spartiate»

Drehbuch Wirklichkeit. Der Sieger: «Spartiate»

Ratlose Fördergremien?

Dennoch bietet für die meisten Gremien und Produzenten das Drehbuch die einzige Möglichkeit Realisierungschancen eines Filmprojektes zu beurteilen. Blicken wir auf Solothurn durch den Rückspiegel der Produktionen und schauen aus den fertigen Filmen auf die Drehbücher zurück. So lässt sich vielleicht besser verstehen, warum enttäuschte Beobachter immer dasselbe Klagelied singen: Gute Drehbücher braucht das Land.

Ein Beispiel vorneweg: Ein Schweizer Verleiher verriet mir, dass ihm vor acht Jahren in Cannes ein Drehbuch für eine Vorschussfinanzierung vorgelegt wurde, über einen arbeitslosen Schwarzen und einen reichen Querschnittgelähmten. Mit «Nogo, klingt nach Sozialschmonzette» habe er abgelehnt. Der Film hiess später «Les Intouchables», ist der erfolgreichste französische Spielfilm aller Zeiten geworden und lockte in der Schweiz 1,4 Millionen Zuschauer in die Sääle – vierzehn Mal so viele wie «Der Goali bin ig».

Das Drehbuch als Dreh- und Angelpunkt?

Erinnern wir uns auch daran, dass einer der erfolgreichsten Filmemacher der Schweiz, Alain Tanner, gerne auch mal ganz ohne Drehbuch zu drehen begann. Dass der Brite Mike Leigh seine Drehbücher über Monate in Improvisationen mit Schauspielern entwickelt. Dass John Cassavetes vor der Kamera improvisieren liess. Braucht ein starker Film denn immer ein starkes Drehbuch? Wieso wird dann aus einem starken Drehbuch nicht immer ein starker Film?

Ein literarisch gänzlich unverdächtiger Autor ist Max Frisch. Einer der bekanntesten Dramatiker liefert seinem besten Kenner Richard Dindo den Roman «Homo Faber». Ein Drehbuch ist das nicht. Dindo selber nennt sein Werk eine «filmische Lektüre» und lässt die drei Frauenfiguren durch den Romanhelden Faber selbst befragen.

Davon wollte ihn niemand abhalten, schliesslich darf man die literarische Finesse eines der grössten Schriftsteller der Schweiz auch im Film erwarten, zumal mit Dindo einer seiner besten Kenner seinen Text belauscht. Obwohl Max Frisch kein Drehbuchschreiber war, ist er der Garant für einen Film, der ein faszinierendes Hör- und Seh-Spiel bietet.

Einer der Favoriten:«Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern».

Einer der Favoriten:«Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern». (Bild: Oliver Vaccaro)

Ein anderer Schweizer Schriftsteller hingegen fand als Drehbuchschreiber keine Gnade. Stina Werenfels meldete das Theaterstück «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» von Lukas Bärfuss für einen Film an. Da konnte man lange vor dem Filmprojekt wissen, dass das Drehbuch zum Besten gehört, was Schweizer Dramatik zur Zeit zu bieten hat – und wurde zurückgeweisen. Man schien hier der Regisseurin und ihrem weiblichen Blick nicht zu trauen.

Welch ein Glücksfall aber ist Bärfuss zuteil geworden, dass die Regisseurin des Films, Stina Werenfels, nicht nur das Theaterstück auf die Leinwand brachte. Sie fand eine ganz eigene Optik und eine kongeniale Hauptdarstellerin, die erst all die Ängste und Sehnsüchte um einen Gebärwunsch zu einer filmischen Welt macht.

Das Drehbuch wird mit jedem Schritt neu geschreiben

Er habe, sagt Villi Hermann, der Produzent der Komödie «La Buca», schon beim Lesen des Textes von Daniele Cipri, Massimo Gaudiso und Miriam Rizzo gespürt, dass das ein grandios freches Buch ist. Soviel Wortwitz und Anarchie seien selten in einem Buch zu finden.

Tatsächlich lesen sich die brillanten Dialoge über den schmierigen Winkeladvokaten Oscar wie die «Lazzi» von Eduardo di Fillipo oder die Sprachwitze des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo. Aber erst die Besetzung mit dem umwerfend komischen Sergio Castellitto hat das Drehbuch zu einem Feuerwerk werden lassen. 

Stefan Haupt (einer der Anwärter auf den Schweizer Filmpreis und Oscar-Anwärter mit «Der Kreis») sagt, dass er als erstes von den Produzenten ein Drehbuch für einen Spielfilm erhalten habe. Fiction, nota bene. Als die Finanzierung dieses Spielfilmes nicht zustande kam (Deutschlands Förderstellen gaben kein Geld), nahm er Abstand vom Projekt. Der Film war gestorben. «Der Kreis» wäre vielleicht nie gedreht worden. Das Drehbuch lag auf Eis.

Erst als Haupt die Idee einbrachte, zwei Männer aus der wirklichen Szene des «Kreis» einzubauen und so eine Doku-Fiction zu entwickeln, wurde das Spielfilm-Drehbuch zu dem, was es heute ist. Haupt fügte eine wirkliche Liebesgeschichte aus Zürich in das Drehbuch ein, fand in Röbi Rapp und Ernst Ostertag ein schwules Ehepaar der ersten Stunde in der Wirklichkeit, und mit ihnen den eigentlichen Kern seines Films.

Die Wirklichkeit macht den fiktionalen «Kreis» erst zu dem, was ihm auch in Amerika zu Aufsehen verhalf: Ein alt gewordenes Liebespaar darf seine Träume von damals in Erfüllung gehen sehen – als wären sie Teil eines Films.

Hans und Röbi sind in ihrem eigenen Film Zuschauer und Hauptakteure zugleich. Sie sind die Diamanten der Wirklichkeit im Schweizer Trumpf im Oscar-Rennen 2015. Erst ihre Anwesenheit setzt das ehemalige Durchschnittsdrehbuch in den genial universalen Kontext. Das Projekt schöpft heute seine Stärke aus der Gültigkeit des Drehbuches in der Wirklichkeit, das die Fiktion erst zu einer umwerfenden, hinreissenden Leibesgeschichte zweier Männer macht. Letztlich ist dieser Schritt wohl erst mit dem Schnitt des Films zur Blüte gekommen.

Das Drehbuch ist der Versuch, ein Filmprojekt in Gang zu kriegen

Peter Luisi, der für seinen Drehbuchentwurf «Schweizer Helden» Absagen erhielt, hielt sich an den Rat seines Freundes Fredi Murer: «Ein Drehbuch wird dreimal neu verfasst. Beim Schreiben. Beim Drehen. Beim Schneiden.» Luisi wartete nicht lange. Er drehte. Er weiss, dass sich im «Drehbuchschreiber nur wenig vom Filmer zeigt». Im Regisseur aber viel.

Luisi ist ein Macher. Anstatt immer weiter Geld zu sammeln, suchte er eine Besetzung zusammen, fand Drehorte und brachte sein Drehbuch durch alle Etappen – bis ins Kino. Er hat vor allem mit seiner glücklichen Besetzung und seinem klugen Schnitt, sein dünnes Buch zu einer Multi-Kulti-Komödie gemacht, die das Publikum – auch in Solothurn – mehrfach zu Zwischenapplaus reizte.

Fredi Murers Drehbuch für«Liebe und Zufall» wurde (in Zürich) ebenfalls abgelehnt. Wie er sagt, ärgerte er sich nicht lange. Wozu? Drehbücher würden neuerdings nach scholastischen Drehbuchkriterien beurteilt, die nicht seine seien.

Für einen Autorenfilmer wie Murer ist Förderungspraxis schwer nachvollziehbar. Weil für ihn das Drehbuch erst mit dem Drehen und beim Schneiden wirklich entsteht. Selbst brillant geschriebene Dialoge können im Endprodukt noch einmal neu fixiert werden. Sein «Höhenfeuer» hat Murer in der Postproduktion radikal neu vertont.

Dreh- und Angelpunkt: der Inhalt

Andere, wie Kuno Bont, brauchen Anlaufzeiten von 20 Jahren für einen Film. «Das Deckelbad – Die Geschichte der Katharina Walser» war in der ersten Vorstufe eine historische Recherche, dann wurde daraus ein Theaterstück, das Kuno Bont erst einmal für die Bühne inszenierte. Dort wurde aus dem Stoff live ein Ereignis für Publikum. Erst dann folgte die filmische Vision.

Simona Specker, die nun die Hauptrolle grandios spielt, hatte bei der Theateraufführung als Sechzehnjährige schon mitgewirkt. Sie konnte im Film also auf eine Erfahrung zurückgreifen, die kein Drehbuch der Welt so perfekt liefert. Sie kannte schon die Welt der Katharina vor Publikum.

Bont wagte den Schritt mit seiner einstigen Statistin. Mit Hilfe der glücklichen Kameraführung von Günter König und Jens Weber gab ihm das Resultat recht – und das Crowdfounding half ihm an jeder Filmsubvention vorbei. Damit gelang Bont am Rande der Filmtage eine der Überraschungen und stillen Höhepunkte. Narrative Filmkunst, die Wirklichkeit engagiert aufgreift und mit Menschen aus der Region musikalisch versiert in einen der spannendsten Schweizfilme der letzten Jahre verwandelt.

Ebenso überraschend mit seiner Leichtigkeit: «Tapis Rouge» von Frédéric Baillif und Kanorama Gahigiri. Sie haben das Drehbuch und seine Entstehung gleich zum Thema ihres Films gemacht – und bewiesen, dass ein Drehbuch eben erst durch das Machen die eigentliche Prüfung erfährt.

Auch sie arbeiteten an jeder Förderung vorbei. Ein Sozialarbeiter unternimmt mit einer Gruppe von Jugendlichen eine Reise ins Mekka der europäischen Filmindustrie, zum Festival nach Cannes. Unterhaltung aus der Mitte des Freizeitlebens in der Schweiz – und mit einer grossen Prise Traum von Wirklichkeit.

Ein Drehbuch-Anwärter auf den Schweizer Filmpreis: «Bouboule» von Bruno Deville

Ein Drehbuch-Anwärter auf den Schweizer Filmpreis: «Bouboule» von Bruno Deville

Schauspieler machen Drehbücher vor der Kamera erst zu Filmen

Max Frisch sagte einst, dass «die Schauspieler das Fleisch an die Knochen bringen», wobei er mit Knochen seine Stücke meinte. Der diesjährige Fernsehfilmpreisträger Joel Basman («Ziellos») macht das auf seine Weise klar. Er macht Drehbücher erst wirklich lesbar, wenn er sie spielt.

Basman verhilft – im Duo mit Peter Jecklin – dem Drehbuch erst zur Schlagkraft. Ebenso wie Mathias Gnädinger und Jörg Schneider Thomas Hostettlers Theaterstück-Grundlage «Exit» erst lebendig machen. Ohne deren Zartheit wären die Dialoge in «Usfahrt Oerlike» doch arg hölzern.

Sabina Timoteo verhilft im Duo mit Max Hubacher der bestechend einfachen Drehbuchidee von «Driften» erst zu eigentlicher Spannung. Erst Victoria Schulz mit ihrer «Dora» bot für ihre Regisseurin Werenfels die letzte Leseart des Drehbuchs. Simona Specker als Katharina Walser in «Deckelbad» macht aus einem leicht voraussehbaren Melodram einen grossen, kleinen Film. Ein vorzügliches Drehbuch, wie es Villi Hermann mit «La Buca» produziert hat, wird erst von einem vorzüglichen Schauspieler wie Sergio Castellitto zum überragenden Genuss.

Misstrauische Filmer

Kann Förderung beim Drehbuch beginnen? Ja. Sagt Fredi Murer, der weiss, dass ein Drehbuch mehrmals gefördert werden müsste. Und Nein sagt er auch: «Mindestens viermal wird ein Drehbuch beim Machen in der Praxis ganz neu überprüft.» Mit dem Schreiben fängt alles nur an. Mit der Auswahl der Schauspieler geht es weiter. Die Drehorte sind eine weitere Eichung. Und beim Schnitt fängt noch einmal alles von vorne an. Oder, wenn man so will: Jetzt kommt erst die Musik des Films zustande.

Auch das Finden der Drehorte kann ein Buch auf den Kopf stellen. Der Urner Claudio Fäh hat seinen Vikingerfilm «Northmen» erst in Bulgarien drehen wollen. Als Südafrika als Drehort feststand, musste noch einmal alles umgeschrieben werden. Selbst die fehlende Finanzierung kann ein Drehbuch neu definieren, wie im Fall von «Der Kreis» oben beschrieben.

Filmer sind zurecht misstrauisch, wenn sie zweifeln, ob man einen zukünftigen Film nach dem Drehbuch beurteilen könne. Filmer denken ihr Buch mit jedem Schritt neu (zumindest tun das die Erfahrenen unter ihnen): beim Schreiben und beim Besetzen. Beim Drehen, Schneiden und beim Vertonen.

Drehbücher, darin sind sich alle einig, sind eben nicht die Spitze des Eisbergs. Man kann aus ihnen nicht einmal präzise voraus sagen, ob darunter tatsächlich noch sieben Mal mehr Masse schlummert wie bei einem Eisberg. Das Drehbuch ist letztlich das Fragment einer Partitur, die nur auf einer Leinwand zustande kommt, wie es Bergman einst formulierte.

Zürich und Bern haben den Dreh raus: Zieht Basel nach?

In Basel wird über Filmförderung nachgedacht. Der Grosse Rat wird darüber debattieren, ob der Kanton Basel-Stadt etwas für den Film tun will. Bern mit seiner komfortablen Filmstiftung und Zürich als Hauptsitz der Schweizer Filmindustrie haben die Förder- und Schaffenshoheit in der Schweiz. Die Berner vergeben rund 5, die Zürcher etwa 10 Millionen Franken an Fördergeldern. Sie kommen entsprechend öfter in den Schweizer Filmen vor.

Jeder Förderfranken lässt drei bis vier in den Förderkanton zurückfliessen. Filmfördergelder generieren Rückflüsse, die im Land bleiben. Das haben andere – zum Beispiel Deutschland – längst erkannt. Wer von Berlin Geld will, muss Geld in Berlin investieren. Filmförderung kann auch eine nachhaltige Standortförderung im Auge haben. 

In Basel will man die Überlegungen zu einer neuen Filmförderung dahingehend weiterführen. Filmförderung soll in Basel auch Drehbuchförderung heissen. Basel will in der Schweizer Landschaft die Lücke füllen helfen. Ob es sich dabei an den Besten orientieren kann, wird sich weisen.

In Solothurn lässt sich an den Preisträgern nicht eindeutig ablesen, ob bessere Drehbücher bessere Filme ermöglichen. Thomas Hostettler liefert das Ur-Buch, das den Publikumspreis erhielt für «Usfahrt Oerlike». Die Wirklichkeit lieferte ihr Drehbuch in Marseille für «Partiates» – jenen Dokumentarfilm, für den die Solothurner Jury sich entschied.

Die Preise sind also vergeben. Die Filmtage zu Ende. Jetzt fängt das Warten auf die Verleihung der Schweizer Filmpreise an. Sie steht im März an. Dann hoffentlich auch mit einem Oscar-Gewinner in den Reihen der Sieger. Aber nicht für das Drehbuch.

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Nominationen für den Schweizer Filmpreis 2015:

«Bester Spielfilm» – je Nomination 25’000 Franken

BOUBOULE, Bruno Deville, CAB Productions SA
CHRIEG, Simon Jaquemet, Hugofilm Productions GmbH
DER KREIS, Stefan Haupt, Contrast Film Zürich
DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN, Stina Werenfels, Dschoint Ventschr Filmproduktion AG
PAUSE, Mathieu Urfer, Box Productions

«Bester Dokumentarfilm» – je Nomination 25’000 Franken

ELECTROBOY, Marcel Gisler, Langfilm
IRAQI ODYSSEY, Samir, Dschoint Ventschr Filmproduktion AG
TABLEAU NOIR, Yves Yersin, Ateliers MERLIN Sàrl
THULETUVALU, Matthias von Gunten, HesseGreutert Film AG
YALOM’S CURE, Sabine Gisiger, Das Kollektiv für audiovisuelle Werke GmbH

«Bester Kurzfilm» – je Nomination 10’000 Franken

DISCIPLINE, Christophe M. Saber, Box Productions
EN AOÛT, Jenna Hasse, Galão com Açúcar
LA PETITE LEÇON DE CINÉMA: LE DOCUMENTAIRE, Jean-Stéphane Bron, Milos-Films SA
PETIT HOMME, Jean‐Guillaume Sonnier, Casa Azul Films
TIŠINA MUJO, Ursula Meier, Bande à part Films 

«Bester Animationsfilm» – je Nomination 10’000 Franken

AUBADE, Mauro Carraro, Nadasdy Film
MESSAGES DANS L’AIR, Isabelle Favez, Nadasdy Film
TIMBER, Nils Hedinger, prêt-à-tourner Filmproduktion GmbH

«Bestes Drehbuch» – je Nomination 5000 Franken

BOUBOULE (Antoine Jaccoud, Bruno Deville), CAB Productions SA
DER KREIS (Stefan Haupt, Christian Felix, Ivan Madeo, Urs Frey), Contrast Film Zürich
DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (Stina Werenfels, Boris Treyer), Dschoint Ventschr Filmproduktion AG

«Beste Darstellerin» – je Nomination 5000 Franken

Ursina Lardi, in UNTER DER HAUT
Sylvie Marinkovic, in CURE – THE LIFE OF ANOTHER
Sabine Timoteo, in DRIFTEN

«Bester Darsteller» – je Nomination ‚000 Franken

Baptiste Gilliéron, in PAUSE
Benjamin Lutzke, in CHRIEG
Sven Schelker, in DER KREIS

«Beste Darstellung in einer Nebenrolle» – je Nomination 5000 Franken

Nils Althaus, in PAUSE
Peter Jecklin, in DER KREIS
Ella Rumpf, in CHRIEG

«Beste Filmmusik» – je Nomination 5000 Franken

DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (Peter Scherer)
ELECTROBOY (Balduin)
PAUSE (Mathieu Urfer, Marcin de Morsier, John Woolloff, Ariel Garcia)
YALOM’S CURE (Balz Bachmann)

«Beste Kamera» – je Nomination 5000 Franken

CHRIEG (Lorenz Merz)
DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (Lukas Strebel)
THULETUVALU (Pierre Mennel)

«Beste Montage» – je Nomination 5000 Franken

CHRIEG (Christof Schertenleib)
DER KREIS (Christoph Menzi)
ELECTROBOY (Thomas Bachmann)

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