Mit stehenden Ovationen für den Literaturwissenschaftler Peter von Matt, der 75 wurde, und für die scheidende Geschäftsleiterin Vrony Jaeggi haben am Sonntag die 34. Solothurner Literaturtage geendet. Wie im Rekordjahr 2011 wurden gut 12’000 Eintritte gezählt.
Allein etwa 500 dürften es für die Abschlussveranstaltung am Sonntagnachmittag im brechend vollen Landhaussaal gewesen sein. Peter von Matt unterhielt sich mit dem Publizisten und SRG-Direktor Roger de Weck unter anderem über das verklärte Selbstbild der Schweizer und über Parteien, die nicht miteinander diskutieren können, weil sie verschiedene Sprachen sprechen – die einen zu simpel, die anderen zu komplex.
Das Motto der diesjährigen Literaturtage lautete „Wie küsst die Muse heute?“. Franz Hohler bekannte, dass er im Gegensatz zu früher Ideen nicht mehr notiere. „Eine Idee, die etwas von mir will, kommt wieder.“ Und wenn eines Tages keine Ideen mehr anklopfen, „auch gut, ich habe ja jetzt die AHV“.
Wie im Fall von Hohler waren es heuer vor allem die grossen Namen, welche die Säle füllten, etwa der als „Skandalautor“ verunglimpfte Christian Kracht – der auch in Solothurn nicht über den an ihn ergangenen Nazismus-Vorwurf diskutierte -, die Bestsellerautoren Charles Lewinsky und Hansjörg Schneider oder der Büchnerpreisträger F.C. Delius.
In einem Fall war es wohl ein Buchtitel, der Neugierige in Massen anlockte: Thomas Meyers Erstling „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ hielt, was er versprach: eine urkomische, mit jiddischen Ausdrücken durchsetzte Satire auf das Leben in der jüdischen Gemeinde Zürichs, speziell die Verkuppelungspraxis der Mütter.
Spiel als Musenkuss
Ähnlich vergnüglich wie Meyers Lesung und die des Hochleistungshumoristen Hohler waren nur noch die „Icon Poet“-Veranstaltungen. „Icon Poet“ ist ein Würfelspiel, bei dem Spieler aus fünf wechselnden Symbolen innert drei Minuten eine Geschichte zu einem bestimmten Thema basteln müssen.
Unter anderem trat Meyer im Spiel gegen Hohler und Pedro Lenz an. Er machte aus dem Symbol der Schnecke eine im Bett nur langsam in Fahrt kommende Freundin. Hohler verkuppelte die Schnecke mit einem Känguruh, wobei die Frage nach der ehelichen Unterkunft, Beutel oder Haus, noch das geringste Problem darstellte. Lenz dichtete in drei Idiomen, darunter Balkan-Helvetisch.
Ein paar hingeworfene Zeichen reichen also, um die Muse herbeizurufen. Die weiteren Methoden dürften so verschieden sein wie die fast 100 Schreibenden, die heuer in Solothurn auftraten. Martin R. Dean etwa denkt bei „Musenkuss“ an die Matratze: Im Halbschlaf kämen ihm ganze Romane in den Sinn, sagte er. Auch sein Gesprächspartner Marcel Beyer hat die besten Ideen morgens, „bevor sich die Wirklichkeit ins Hirn bohrt“.
Warme Füsse, kühler Kopf
Charles Lewinsky, im Gegenteil, begrüsst den „Gehirnwurm“, einen Bruder des Ohrwurms: Die wahre Geschichte von „Gerron“, einem jüdischen Regisseur, der einen Nazi-Propagandafilm drehen musste, habe sich in seinen Denkapparat gebohrt, bis er nicht mehr anders konnte, als sie literarisch zu verarbeiten.
Praktischer sehen es die Frauen: Friederike Kretzen und Christina Viragh benötigen im Winter Decken, weil sie mit kaltem Körper keinen kühlen Kopf bewahren können. Zudem sind beide passionierte Fensterguckerinnen. Wie die Männer orten aber auch sie die Inspiration im Unterbewussten: „Inspiration beginnt da, wo man keine Sprache hat“, waren sie sich einig.