Während ihres Präsidialjahres wirbt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga für die direkte Demokratie – auch in ihrer Rede am Europa-Forum in Luzern. Dass das Unbehagen nach der Annahme von verschiedenen Volksinitiativen zugenommen hat, sieht sie als Chance.
Regeln und Systeme würden überall und immer hinterfragt, nicht nur in der Politik, sagte Sommaruga. Im Fussball zum Beispiel stelle sich die Frage, ob man Videobeweise einführen soll. «Hier habe ich persönlich zu wenig Ahnung, aber ich vermute, am Resultat würde sich nicht viel ändern: Am Schluss gewinnen sowieso meistens die Deutschen», sagte die Bundespräsidentin mit einem Schmunzeln.
Im Sport als auch in der Politik gelte: Wer über die Regeln diskutiere, stelle nicht das System generell in Frage. Niemand wolle in der Schweiz die direkte Demokratie abschaffen, ebenso wenig den Fussball. Aber jedes System könne sich nur entwickeln und verbessern, wenn man sich immer wieder damit auseinandersetze. Auch die direkte Demokratie in der Schweiz habe sich stets verändert.
Initiative zu Marketingzwecken
Die Volksinitiative sei als Mittel für politische Kreise entstanden, die nur beschränkt Zugang hatten zu den institutionalisierten politischen Prozessen. Vor allem die oppositionellen katholisch Konservativen hätten sich Ende des 19. Jahrhunderts dieses Volksrecht erkämpft.
Doch heute habe sich die Volksinitiative zunehmend zu einem Instrument des politischen Marketings entwickelt. Sie werde auch von politisch starken Gruppierungen eingesetzt, die im Parlament über grossen Einfluss verfügten. Viele Initiativen würden von Parteien gezielt auf Wahlen hin entwickelt und lanciert.
Eine zunehmende Anzahl von Initiativen verletze Völkerrecht oder beeinträchtige grundlegende Verfassungsnormen. Das Unbehagen über diese Entwicklung sei nachvollziehbar. Gegenwärtig mehrten sich die Stimmen, die Initiativen für ungültig erklären wollten, wenn diese zum Beispiel gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen.
Gefahr von Missbrauch
Sommaruga plädierte allerdings für Zurückhaltung bei der Einführung von neuen Ungültigkeitsgründen. Denn: «Je breiter die Ungültigkeitsgründe gefasst werden, desto mehr steigt die Gefahr, dass sie missbraucht werden, um politisch missliebige Initiativen dann einfach zu verhindern.»
Die Hürden, bis eine Volksinitiative für ungültig erklärt werden, seien sehr hoch. Diese Tatsache dürfe aber nicht bedeuten, dass rechtsstaatliche Grundsätze oder internationale Verpflichtungen der Schweiz nicht ernst genommen werden. «Unsere direkte Demokratie ist eine einmalige Erfolgsgeschichte», sagte Sommaruga. Damit dies so bleibe, brauche es eine Kultur des Respekts und der Rücksichtsnahme.
Die direkte Demokratie sei ein mutiges System, schloss die Bundespräsidentin ihre Rede. Die Bürgerinnen und Bürger hätten viel Verantwortung, sie fällten Entscheide von grösster Tragweite.
In den letzten zwei Jahrhunderten seien weltweit 500 nationale Volksabstimmungen durchgeführt worden, 300 davon in der Schweiz. «Ich bin stolz, Bundespräsidentin des Landes zu sein, in dem 60 Prozent aller weltweit abgehaltenen Volksabstimmungen durchgeführt wurden.»
«Mehr Beteiligung macht auch nicht glücklich»
Auch der zweite Redner am Montagabend brach eine Lanze für die direkte Demokratie. «Meine Landesregierung ist mit dem Versprechen angetreten, die Zivilgesellschaft im Land zu stärken und den Bürgern mehr politische Mitsprache zu ermöglichen», sagte Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Da liege es auf der Hand, interessiert über die Grenze in die Schweiz zu blicken.
Vier Jahre nach Amtsantritt komme er allerdings zum Schluss: «Mehr Beteiligung macht auch nicht glücklicher.» Es sei aber auch nie darum gegangen, ein Bürgerparadies zu errichten, sondern darum, die Bürgergesellschaft zu stärken.
Dass direkte Demokratie auch mühsam sein kann, musste auch Kretschmann erfahren. Die Abstimmung zum Bahnprojekt Stuttgart 21 haben die lautstarken Gegnern, zu denen auch Kretschmann gehörte, «krachend verloren», wie er es ausdrückte.
«Für viele, die sich an den Protesten beteiligt hatten, war es eine harte Erfahrung, bei der ersten Abstimmung über eine Sachvorlage gleich aufs Dach zu bekommen», sagte der Ministerpräsident. Doch für die Demokratie sei die Abstimmung trotzdem positiv gewesen. «Der Konflikt um das Bahnprojekt wurde durch die Abstimmung befriedet. Das Vertrauen in die Demokratie ist gestiegen.»