Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erhalten ein «amtliches Zeichen der Wertschätzung». Die Post hat ihnen eine Sondermarke mit Zuschlag gewidmet.
Die Marke hat einen Verkehrswert von einem Franken, der Zuschlag beträgt 50 Rappen. Die Zusatzeinnahmen fliessen vollumfänglich in den Soforthilfefonds für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, wie das Bundesamt für Justiz mitteilte.
Die Marke wurde am Donnerstag im Bundeshaus Bundesrätin Simonetta Sommaruga sowie Vertreterinnen und Vertretern der Opfer übergeben. Diese sei «etwas Grosses», sagte die Justizministerin beim Anlass gemäss Redetext. «Der Staat drückt den Menschen, denen bis vor wenigen Jahren unvorstellbares Unrecht angetan wurde, mit dieser Sondermarke seine Wertschätzung aus. Die Marke ist also ein amtliches Zeichen der Wertschätzung.»
Da die Marke nie ihren Wert verlieren werde, würden auch spätere Generationen an das Unrecht erinnert werden. «Sie wird unsere Gesellschaft immer daran erinnern, dass die Schwächeren zu schützen sind, dass alles getan werden muss, damit sich das Geschehene nicht wiederholen kann. Diese Sondermarke trägt dazu bei, dass das alles nicht vergessen wird. Darin liegt ihre wahre Grösse.»
Dunkles Kapitel
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren in der Schweiz bis 1981 angeordnet worden. Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden an Bauernhöfe verdingt oder in Heimen platziert, viele wurden misshandelt oder missbraucht. Menschen wurden zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche eingesetzt oder ohne Gerichtsurteil weggesperrt.
Justizministerin Simonetta Sommaruga hatte 2013 die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Namen des Bundesrates um Entschuldigung gebeten und gleichzeitig einen Runden Tisch eingesetzt. Dieser schuf vor rund zwei Jahren in Zusammenarbeit mit den Kantonen und der Glückskette einen Soforthilfefonds. Dieser hat seither 8,7 Millionen Franken Soforthilfe ausgeschüttet. 1117 Personen bekamen einen Betrag zwischen 4000 und 12’000 Franken.
Initiative und Gegenvorschlag
Im Jahr 2014 wurde zudem die Wiedergutmachungsinitiative lanciert. Sie fordert einen Solidaritätsfonds über 500 Millionen Franken für die Opfer sowie eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Der Bundesrat hat als indirekten Gegenvorschlag das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 vorgelegt, «damit es schneller geht», wie Sommaruga am Donnerstag sagte.
Der Bundesrat möchte, dass die schätzungsweise 12’000 bis 15’000 noch lebenden Opfer finanzielle Leistungen von insgesamt 300 Millionen Franken erhalten. Weiter sollen darin das geschehene Unrecht gesetzlich anerkannt, die Akten gesichert und die Akteneinsicht für die Betroffenen geregelt werden. Zudem soll ein nationales Forschungsprogramm die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung ermöglichen. Der Nationalrat hat dem bereits zugestimmt. Nächste Woche entscheidet der Ständerat darüber.
Botschaft auf Kleinstformat
Wie schon zuvor, stellte der Initiant Guido Fluri am Donnerstag den bedingten Rückzug der Initiative in Aussicht, sollte das Parlament dem indirekten Gegenvorschlag zustimmen.
«Wir Initiantinnen und Initianten wollen möglichst vielen der heute hochbetagten Betroffenen in einem Brief mitteilen können, dass sie noch zu Lebzeiten eine Wiedergutmachung erfahren werden.» Der Brief soll natürlich mit der neuen Marke frankiert werden.
Natürlich könne diese kleine Sonderbriefmarke das grosse Leid nicht vergessen machen. Dennoch sei sie mehr als nur Symbolik. Sie sei Teil einer öffentlichen Anerkennung des Unrechts. «Diese Sonderbriefmarke ist Ausdruck dafür, dass die Sensibilisierung der Gesellschaft begonnen hat.»
Die Sondermarke ist ein Novum. Bislang waren Marken mit Zuschlag einzig Pro Juventute und Pro Patria vorbehalten. «Die Post erweitert so Horizonte, stellt sich der Schweizer Geschichte und setzt ein klares Zeichen», sagte Thomas Baur, Mitglied der Konzernleitung der Post am Donnerstag. Briefmarken erzählten auf Kleinstformat die Geschichten der Schweiz. «Sie tragen Botschaften von Tür zu Tür – auch weit über unsere Landesgrenzen hinaus», erinnerte er.