Lecco ist unser Ziel. Geruhsame Wege gibt es kaum. Wir wandern auf Autostrassen an Sonntagsausflüglern in ihren polierten Autos vorbei.
Die Wirtsleute vom Al Sole in Lasnigo führen ihr Hotel erst zwei Monate, sind noch sehr unsicher und fragen dauernd: «Alles in Ordnung?» Es war wirklich alles in Ordnung – das hausgemachte Nachtessen, der Hauswein, das Bett, die Ruhe im Ort, das Bad, welches der Wirt zur Zeit umbaut, das Frühstück auf der schattigen Terrasse und der Preis. Während Anne noch im Bett lag, hab ich auf der Terrasse etwas geschrieben, drei deutschen Töfffahrern zuzuhören versucht, die eben gezahlt hatten und heftig über den Preis diskutierten. Ich verstand nicht, ob sie empört oder überrascht waren.
Überrascht waren sie – wie wir auch. Für Übernachten, reichliches und gutes Essen, Wein und sonstige Getränke zahlten wir zusammen vierundfünfzig Euro. Soviel hätte in der Scweiz allein das Essen gekostet. Mit den besten Wünschen, dass die beiden etwas unbedarft wirkenden Wirtsleute trotz dieser Preise noch ein paar Monate überleben können, zogen wir von dannen, durchs Dorf hindurch, das grösser war, als wir bei der Ankunft angenommen hatten, einige Läden führte, alle offen an diesem Sonntagmorgen; die Leute sassen bereits im Schatten, erzählten sich ein bisschen was oder schwiegen und schauten zu, wie zwei bepackte Touristen an ihnen vorbei zogen.
Die Qual auf den Autostrassen
Der Weg führte eine ganze Weile parallel zur Provinciale, der Landstrasse sozusagen. Doch irgendwann mussten wir unseren Weg auf dieser Autostrasse weiterführen. Es gab – und ich habe mich mehrfach erkundigt – nichts anderes. Auto fuhr hinter Auto, mal gemächlicher, mal schneller, mal ganz schnell, und die Motorräder donnerten heulend vorbei. Es war am Anfang unangenehm, es war später ärgerlich, es wurde zur Qual. All die hochpolierten Autos, die glänzenden Töffs, die die Italiener und ihre Familien zu ihren Sonntagszielen führten, zur Tante, zum Nonno, zum Bruder, an den See, auf den Berg, nur sinnlos auf der Strasse herum vielleicht. Hunderte, Tausende unterwegs, den ganzen Sonntagmorgen, überhaupt den ganzen Sonntag lang.
Hin und wieder etwas wohltuende Seitenwege, in Asso etwa durchs Städtchen. Wir trafen dort ein lustiges älteres Paar, das seine Wochenenden gemeinsam verbringt – er sehr belesen, weiss alles, «alles, alles, alles» sagt die Frau, etwa siebzig, stotternd, allein lebend in einem Vorort von Mailand. Sie dagegen schaue Fernsehen. Und er gibt ein paar Müsterchen seines Wissens. Zum Beispiel, dass es heutzutage sinnlos geworden sei zu heiraten. Es genüge, wenn man sich am Wochenende treffe. Er hat ein ganz neues, weisses Gebiss. Sie hat Zahnlücken.
Ein See, Lago del Segrino – auf der einen Seite für den Verkehr gesperrt. Und das ist eine Wohltat. Wir machen eine lange Pause, schwatzen Blech zu Wellblech, baden die Füsse, trinken Wasser, ziehen weiter nach Pusiano und dort wird der Verkehr wieder unerträglich. Wird auch unerträglich, weil die Nachmittagshitze drückt.
Das Turnier der Gleitschirme
Vielleicht haben wir vor lauter Autos vergessen, etwas zu essen – mir wird jedenfalls etwas übel, ich schaue auf der Karte verzweifelt nach Nebenwegen, die nach Lecco führen, finde welche, aber nur auf der Karte, wir finden sie nicht in den Dörfern und resignieren sieben Kilometer vor Lecco bei einer Bushaltestelle. Es war ein Pullmann angekündigt eine halbe Stunde später. Ich schaute mir in dieser Zeit das Treiben auf dem Gleitschirm-Landeplatz nebenan an. Irgendein ein internationales Turnier fand statt, zu Hunderten kreisten die Gleitschirmler am Himmel, wie Vogelschwärme. Den ganzen Tag hatten wir sie schon gesehen. Dann kam der Pullman, der Bus.
In Lecco dann wollte mir Anne ihre Erfahrungen im Hotelbereich zeigen, führte mich endlos durch Strassen, bis wir dann ein recht ordentliches und kühles Haus fanden. Auf dem Bett liegend, schaute ich einer Seilbahn zu und hatte plötzlich die Idee, wie man von hier aus weitergehen könnte: Hinauffahren und durch das Seitental dort hinter der Bergwand hinunter nach Bergamo steigen – nach diesem Sonntag auf Autostrassen eine aussichtsreiche Vorstellung, wie man erträglich durch den letzten Alpen-Flaschenhals nach Bergamo gelangen kann.
(Lecco, 28 Juli 2002)