Spieltag 6: Zwei Fieberkurven

Wenn heute Abend Deutschland gegen die Niederlande antritt, werde ich zum ersten Mal so richtig offiziell für die Deutschen leiden. Schuld daran sind beide Teams. Manchmal braucht es etwas Zeit, um den inneren Spiesser zuzulassen. Früher (es scheint lange her), hätte mir ein kleines «Tag» an unserem frisch gestrichenen Hauseingang nichts ausgemacht. Heute aber denke […]

Ein klares Statement vor dem Duell in der Gruppe B: «Orange trägt nur die Müllabfuhr (nichts gegen euch).»

Wenn heute Abend Deutschland gegen die Niederlande antritt, werde ich zum ersten Mal so richtig offiziell für die Deutschen leiden. Schuld daran sind beide Teams.

Manchmal braucht es etwas Zeit, um den inneren Spiesser zuzulassen. Früher (es scheint lange her), hätte mir ein kleines «Tag» an unserem frisch gestrichenen Hauseingang nichts ausgemacht. Heute aber denke ich: Idiot. Ich freute mich über die Stadtverwaltung, die unseren Hauseingang ein zweites Mal frisch bemalte. Und dachte einen Tag später, als die Wand wieder vertaggt war: Riesenidiot.

Und so geht es hin, mein ach so tolerantes Wesen. Zum Glück – und das bewahrt davor, mich ob meines neu erkannten Spiessertums in existenzielle Abgründe zu werfen – funktioniert die innere Entwicklung auch in die andere Richtung.

Zum Beispiel Fussball, zum Beispiel Deutschland. Was habe ich die verachtet, verabscheut, gehasst! Und dann kam 2006 und plötzlich war alles anders. Die Entwicklung, die der deutsche Fussball seither genommen hat, wurde schon vielfach beschrieben. Plötzlich spielten die nicht nur effizient, sondern schön und schnell und richtig, richtig gut. Viele bauen seither ihre Vorurteile gegenüber den Deutschen ab (selbst gegenüber den Bayern-Spielern), bei nicht wenigen ist sogar echte Begeisterung auszumachen.

Früher war die Fussballwelt noch im Lot: Hier die Guten, dort die Bösen.

Ein bisher unterschätzter Faktor in der wachsenden Deutschland-Begeisterung ist übrigens die Gruppe «Blumentopf», die seit 2006 die Fussball-Grossereignisse für die ARD begleitet und dokumentiert. Die Zwei-Minuten-Clips (am Ende des Blogs) zu den deutschen Spielen sind so gut gemacht, dass man sich ihrer emotionalen Wirkung selbst dann nicht entziehen kann, wenn man möchte. Wer solche Fans hat, der kann nicht schlecht sein (und den Waldi und seinen Club blenden wir an dieser Stelle einfach mal aus).

Die Holländer hingegen, die heute Abend gegen ihr Ausscheiden spielen, haben genau die umgekehrte Entwicklung gemacht. Nicht ihre Fans, die sind in ihrer orangen Verschrobenheit noch immer äusserst liebenswert. Aber der Fussball. Es scheint, als ob ein erfolgreiches Turnier (in Südafrika) gereicht hat, um all den Kredit aus den goldenen 70er-Jahren zu verspielen. Da wird nicht mehr im Sinne des Spiels schöngespielt, sondern im Sinne des Resultats reingegrätscht (ich sag nur: Van Bommel). Das Mitleid war schon an einem kleinen und entfernten Ort, als die Niederländer gegen Dänemark in ihrem ersten Gruppenspiel scheinbar hundert Tage gegen das Tor der Dänen anrannten und wohl auch in hundert Jahren kein Tor geschossen hätten. Das Mitleid wird an einem ebenso kleinen und entfernten Ort sein, wenn meine Deutschen heute Abend die Holländer aus dem Turnier gekegelt haben.

 

 Blumentopf-Clip zu allen deutschen Spielen an der WM 2006:

  Der Topf zur EM 2008:

 Und auch nach vier Jahren keine Sekunde langweilig – Blumentopf an der WM 2010:

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