Kurz nach Fuipiano verliert das Valle Imagna seine Urtümlichkeit, es wird vorstädtisch. Bergamo naht. Dort steigen wir in den Zug – Anne Richtung Schweiz, ich nach Parma.
Irgendwann musste der Tag kommen, da die Poebene vor mir auftauchen würde und ich sie auf irgendeine Weise überqueren sollte. Von Fuipiano sieht man auf sie hinunter, durch die Öffnung des Talkessels hindurch, doch seit ich mir im Bergell die Gründe zurechtgelegt hatte, warum ich sie nicht zu Fuss durchqueren würde, machte mir diese Ebene keine Bange mehr. Vorerst aber hatten wir einfach den Abstieg aus diesem hübschen Dörfchen ins Tal hinunter vor uns. Der Wirt wischte, wie das viele Männer tun, den Vorplatz, kehrte trockenes Laub zusammen und Zigarettenstummel. Golden die Sonne, blau der Himmel, kühl die Luft.
Der Wirt war nicht mehr so gesprächig wie am Abend. Selbstvergessen schaute er in die Berge, ich sass am Tischchen und schrieb. Zwei Pensionärinnen, Tochter und Mutter, letztere bereits einundneunzig, gaben uns beim Frühstück alle guten Wünsche auf den Weg – mir für Sizilien ganz besonders. Ob ich keine Waffe hätte – aha, die Faust! und solche Sprüche.
Die richtigen Worte
Schön liegt die Kirche am Rand der Terrasse, mit mächtigem, schlankem Turm, aber geschlossen. «Wer mich liebt, fürchtet mich» – so die Inschrift über der Tür, eigentlich genau die richtigen Worte, um einem die Religion zu verleiden. Und dann blieb uns wenig mehr übrig, als ins Tal zu steigen, Kurve um Kurve, Tornanti um Tornanti zu folgen. In der Mitte des Hanges fand ich einen alten Säumerweg. Da war es doch um vieles angenehmer, auf Steinweg und trockenem Laub statt auf Teer. Wir sprachen nicht viel, der Abschied nahte, sehr konkret hatten wir aber darüber nicht geredet. Gstern Nachmittahatte Annegesagt, dass sie heute wieder heimreisen müsse.
Zwei, drei Dörfer – dann tauchte Sant Ombono auf. Wir merkten, dass die Idylle der schönen Wanderwege, der stillen Landschaften zu Ende ging. Zeitweise verengte sich das Tal, liess kaum den Häusern mehr Platz, die Leute in ihren Autos rasten von Bergamo her dem Mittagessen zu, kurvten durch die Dörfer, Seitenwege hatte es keine, nur Wald hinunter zum Fluss, Wald hinauf auf die Höhen, und wenn ein Weg abzweigte, führte er zu einer Wiese und nicht weiter.
In Strozza beschlossen wir, noch so weit zuwandern, bis wir erstmals einen städtischen Bus würden. Nach zwei Stunden war es soweit. Wir quetschten uns zwischen Frauen, Männer und Jugendliche, die für irgendeine Besorgung in die Stadt fuhren, auf die Sitze eines stickig heissen Pullmans. Wir durchfuhren Vororte, diese immergleichen, hier natürlich etwas italienischer wirkenden Agglo-Siedlungen als in Frankreich – aber trotzdem: auch hier dieses wuchernde Beton-Vorgarten-Gemisch mit unpersönlichen Bars dazwischen, Apotheken, Mini-Markets, zwei-, dreispurigen Strassen, Ampeln, Industriekomplexen, Autofriedhöfen, Stacheldrähten um Plätze herum, auf denen irgendwelche rostenden Geräte liegen und die zusätzlich ein kläffender Köter an einer Leine bewacht.
Unterschiedliche Antworten
Ein Mann mit Detailplänen für Fenster, schon vor uns im Bus, sorgte für einige Aufregung in der schläfrigen Gesellschaft. Er wusste nicht recht, wo aussteigen. Der Buschauffeur und die Fahrgäste gaben unterschiedliche Antworten.
Auf dem Bahnhof wussten wir beide, dass es nichts werden sollte mit Stadtbesichtigung. Zu heiss war es und zudem drängte es uns weiter. Wir lösten Billette – Anne nach Chiasso, ich nach Parma.
Mir war plötzlich etwas mulmig zumute. Langsam hatte ich Schottland, England, die verschiedenen Frankreich, die Schweiz und das italienische Grenzgebiet durchwandert – und nun stand ein grosser Wechsel bevor. Jetzt erst würde Italien so richtig beginnen. Ein Land wahrscheinlich, das noch weniger als Frankreich Wege zum Gehen parat hat, ein heisses Land, ein Land auch, wo ich nicht überall würde Wasser anzapfen können.
Wir sassen im heissen Zug, tuckerten Mailand entgegen und Anne fragte mich, was ich auf dieser Reise am meisten vermisst hätte. War um eine prompte Antwort verlegen.
Unvermittelter Abschied
Der Abschied war abrupt. Wir schauten auf dem Mailänder Bahnhof auf die Anzeigetafel und ich sagte: «Vor fünf Minuten hätte ein Zug nach Chiasso fahren sollen, und er steht noch da.» Rannte hin, drückte Anne die Türe auf und los fuhr der Zug. Ein sehr unvermittelter Abschied.
Die Fahrt nach Parma war lang, heiss. Unmittelbar beim Bahnhof stand eine Pension. Ich hatte keine Lust, noch irgendetwas zu unternehmen, einen anderen Platz zu suchen – nur ein Wunsch: Rucksack abstellen, dann hinein in leichte Kleidung, in die Stadt, um Kartenmaterial zu suchen. Es gibt sozusagen keines. Alles, was jetzt kommt, wird sehr ungewiss sein und Sizilien ist weit, weit weg. Die Leute sind sehr gelassen hier, wenig Touristen, scheint mir, viele Einheimische schlendern herum, man hört keine anderen Sprachen, nur italienisch – wer kommt als Tourist in den heissen Julitagen schon hierher?
Auf dem Bett ohne Leintuch, ständig erwache ich, spüre den Schweiss rinnen. Es ist schwül und stickig im dämmrigen Zimmer, durch die Jalousien dringt der Lärm der Stadt und das Licht der Lampen und Laternen. Der Lärm in der billigen Absteige neben einem italienischen Bahnhof halt: anfahrende Busse, abbremsende und beschleunigende Autos. Motorräder mit den hochtourigen Motoren. Und diese Hitze. Ich schaue immer wieder den Rucksack an, den mächtigen, lass mir durch den Kopf gehen, was alles ich nicht brauche. Ich habe immer noch zuviel Material dabei. Wohin soll ich mit all dem Zeugs, wenn ich es nicht durch die italienische Hitze tragen will? Morgen werde ich radikal ausmisten und ein dickes Paket in die Schweiz schicken. Es wird mir wieder etwas mulmig, denk ich an die letzte Etappe meiner Reise.
(Parma, 30. Juli 2002)