Stadt oder Land – etwas fremd bleibt es immer

Das Auto verändert Stadtbilder und pflügt Landschaften um. Wir lassen es gewähren und tun alles, damit es nicht zum Stillstand kommt.

Das Auto verändert Stadt und Land. (Bild: Nils Fisch)

Das Auto verändert Stadtbilder und pflügt Landschaften um. Wir lassen es gewähren und tun alles, damit es nicht zum Stillstand kommt.

Zum 83. Mal werden am 7. März die Tore des Palexpo geöffnet, um dem Publikum am Genfer Auto-Salon die neusten Kreationen der Branche zu präsentieren. Die Inszenierung ist auf den zweiten Blick irritierend: Die Fahrzeuge stehen nicht draussen oder fahren herum, sondern ruhen CO2-neutral in den Ausstellungshallen wie in einem Museum.

Viele Journalisten werden bald die Produkte des neuen Jahrgangs begutachten und kommentieren, Veränderungen, Moden und Trends diagnostizieren. Aber ebenso lohnt sich der Blick hinaus auf die Strassen, in die Städte, wo der Verkehr rollt. Dorthin, wo die Autos «richtig» leben, um zu beobachten, wie sich unsere Lebensräume, allen voran die urbanen, durch den Gebrauchsgegenstand Auto gewandelt haben. Wir haben uns ans Auto gewöhnt, sind mit ihm aufgewachsen. Wir nehmen das Rauschen des Verkehrs, das über einer Stadt schwebt, gar nicht bewusst wahr. Gerade deshalb sollten wir mal innehalten, um darüber nachzudenken, wohin dieser Wandel noch führen könnte.

Beschleunigtes Leben

Verkehr gehört zur menschlichen Zivilisation. Seit jeher gibt es Strassen und Wege. Der motorisierte Verkehr erhöht die Mobilität von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Und so hat das Auto unser Leben beschleunigt und war entscheidend an der Entwicklung der Gesellschaft zum modernen Wohlfahrtsstaat beteiligt.

Das Auto ist die mobile Fortsetzung des privaten Wohnraums. In ihm geniesse ich allein oder mit Bekannten die Unabhängigkeit und Abgeschottetheit inmitten der grossen Welt, überall dort, wo Strassen mich hinführen. Deshalb wurden Strassen möglichst überall, wohin es das mobile Herz begehrt, gebaut. Und dort, wo die Verhältnisse zu eng sind, werden Häuser abgerissen, Berge gesprengt, Brücken gespannt, um für neue Stras­sen Platz zu schaffen oder um bisherige Strassen zu entlasten.

Metaphern aus der Medizin

Aufschlussreich ist dabei die Verwendung von Metaphern aus dem Bereich der Medizin seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um Verkehrsphänomene zu beschreiben. Sie sind mit dem Stoffwechselkreislauf vergleichbar: Die Fahrzeuge pulsieren auf Verkehrsadern. Gibt es Stau, spricht man vom Verkehrskollaps oder gar -infarkt. Um chronische Staupro-bleme zu lösen, baut der Stadtplaner, gleichsam Chirurg, einen Bypass. Kurz: Der Verkehr ist lebenswichtig für die Stadt wie der Blutkreislauf für den Organismus. Die Strassen sind Adern, die die Versorgung der Quartiere ermöglichen. Fehlt die Ader, so droht ein Gebiet – aus der Perspektive des modernen Lebens – ins Abseits zu geraten und auszusterben.

Die Idee aus den 1960er-Jahren, durch die Berner Altstadt hindurch eine vierspurige Verkehrsschneise zu bauen, zeugt von der Wertschätzung der Mobilität und der Geringschätzung der historisch gewachsenen Stadt. Bern ist kein Einzelfall, blieb aber von Verunstaltungen letztlich verschont. Andere Städte hatten weniger Glück: Beim Bau von Schneisen mussten etliche Häuser oder ganze Strassenzüge weichen, wurden Stadttore geschleift und die holprigen, gemütlichen Kopfsteinpflästerungen mit glattem Asphalt überzogen. Solche Massnahmen erinnern unweigerlich an die Legende vom Trojanischen Pferd; und es stellt sich die Frage: Lassen wir mit der bis in die Mitte der Siedlungskerne vordringenden, motorisierten Mobilität etwas ins Herz unserer Kultur, das diese wie ein Virus angreifen könnte?

Einerseits verändert und beschleunigt das Automobil unsere Lebensgewohnheiten und Aktivitäten, andererseits ist der einzelne Nutzer im Fahrzeug eigentümlich passiv. Er muss sich ja gerade nicht bewegen. Und der technologische Fortschritt entlastet ihn mit Servolenkung, Rückfahrkamera, Spurassistent und dergleichen vor unnötiger Bewegung. Dafür ist ihm die Umgebung, durch die er gleitet, fast wie ein Kino. Natürlich darf die Umgebung nicht seine Reize überfluten, so dass die Konzentration im Verkehr litte. Aber ein gewisses Mass an Unterhaltung durch Werbeplakat und Leuchtreklame regt an. So hat sich eine eigenartig flache Architektur beidseits der Strassen neben Lärmschutzwänden entwickelt, eigens für das Heer von Automobilisten. Es ist eine Parallelarchitektur, die neben dem herkömmlichen Städtebau in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist.

Der Preis für die Unabhängigkeit, in der eigenen Fahrgastzelle unterwegs sein zu können, ist der Verlust an sozialer Interaktion. Hinzu kommt, dass die Fussgänger in den Planungen der Nachkriegszeit oft mithilfe von Unter- und Überführungen von den Strassen verbannt wurden. Ampeln kontrollieren stark befahrene Stras­sen. Kein direkter Blickkontakt zwischen den Verkehrsteilnehmenden ist nötig. Dessen Intimität könnte den störungsfreien Verkehrsfluss behindern.

Fehlt die Ader, so droht ein Gebiet auszusterben.

All dies hat das Antlitz von Städten allmählich und nachhaltig verändert. Strassenreihen und Plätze, ehemals öffentliche Räume zur Begegnung und Interaktion, dienen mehrheitlich dem reibungslosen Fahren oder ermöglichen das Kreuzen. Der Lärm stört die Menschen im ungezwungenen Beisammensein auf den Strassen, die Geschwindigkeit der Autos gefährdet sie, die Emissionen belästigen sie. Parkplätze für Metallkarossen, die die Arbeitstätigen oder Konsumierenden kurzzeitig hinstellen, rauben der Stadtbevölkerung wichtigen Lebensraum. Kein Wunder, dass die Wohnqualität in vielen Quartieren gelitten hat.
Neben der modernen Stadt als Organismus, der durch die Verkehrsadern täglich versorgt wird, wuchs deshalb unweigerlich die Agglomeration. In der Stadt arbeiten und im Grünen wohnen wurde seit den 1960er-Jahren die Idealvorstellung eines fortschrittlichen Lebens. Wer die Alternative zwischen dunkler, enger Altbauwohnung in der Stadt und neuem, grosszügigem Einfamilienhaus in der Schlafgemeinde hatte, wählte (und wählt noch heute) häufig die zweite Variante. So entvölkerten sich die Innenstädte. Allerdings zerbricht der Traum vom unabhängigen Leben, wenn alle mit ihrem Auto auf überfüllten Pendlerstrecken unterwegs sind. Die Freiheit wandelt sich in Konformität – ein tiefsinniger Widerspruch der Moderne.

Die Einförmigkeit kann nur halbwegs überspielt werden mithilfe eines Fahrzeugs, das auf den ersten Blick individuell erscheint, obwohl es ein Massenprodukt ist. So inszenieren die Hersteller ihre Produkte als Maschinen mit einem persönlichen Gesicht, deren Scheinwerferaugen den übrigen Verkehrsteilnehmern entgegenblicken. Autos werden so gleichsam hilfreiche «Haustiere», zu denen man eine zärtliche Beziehung unterhält, denen man nicht böse sein darf, auch wenn sie die Luft verunreinigen und die Strasse in eine Blechlawine verwandeln.

Wohntürme statt Altstädte

Im 20. Jahrhundert führte die Entwicklung der Städte in Nordamerika dazu, dass Downtowns, Stadterweiterungen und neue Quartiere immer unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der individuellen Mobilität geplant und entsprechend mit breiten Boulevards und generösen Parkplätzen in Fussballplatzgrösse gestaltet wurden. Zum Glück wurde die Idee von Le Corbusier, die Pariser Altstadt auszuradieren und mit modernen Wohntürmen und einem gut ausgebauten Verkehrsnetz neu zu bauen, in den meisten europäischen Städten nicht umgesetzt.

In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde der Wert der «europäischen Stadt» als organisch gewachsene Wohnform mit verwinkelten Gassen und durchmischten, verdichteten Quartieren wieder entdeckt, während die modernen, verkehrstechnisch gut erschlossenen Siedlungen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren an den Stadträndern vielerorts immer trostloser und entseelter wirkten.

Der Preis der Unabhängigkeit ist der Verlust an sozialer Interaktion.

Zudem verbreiteten sich in den letzten Jahrzehnten verkehrsfreie oder -beruhigte Zonen in den restaurierten Altstädten. Zwar dienen sie häufig als Openair-Einkaufsmeilen, aber sie geben Menschen mit ihren natürlichen sozialen Bedürfnissen den urbanen Raum zurück, wie die Eroberung der Gassen durch Stras­sencafés zeigt. Verglichen mit den Nachbarländern tut sich die Schweiz mit solchen Zonen oder dem Road­pricing allerdings schwer. Immerhin gehört die Berner Altstadt mittlerweile zum Unesco-Weltkulturerbe und hat aus Imagegründen den Verkehr in den Gassen beruhigt. Der Bundesplatz als Parkplatz wurde aufgehoben und wieder zum öffentlichen Begegnungsraum umgestaltet.

Die Debatte um die Gestaltung der Städte aber geht weiter. Dies zeigt die aktuelle Diskussion um Hochhäuser und Ästhetik der urbanen Skyline im amerikanischen Stil. Es ist unter anderem ein Streit zwischen zwei Weltanschauungen, derjenigen des Mythos der Unabhängigkeit und der freien Bewegung des Individuums und jener, die die Pflege des historischen Kulturerbes und der gemeinschaftlichen Lebensformen hochhält. In den Extrempositionen ist das Auto für die einen eine symbiotische App, für die andern ein Trojaner. Es braucht Umsicht und Mass, um diese Dialektik der Moderne aufzuheben.

Literatur:

Ulf Poschardt: Über Sportwagen (2002), Merve (vergriffen)

Richard Sennett: Fleisch und Stein (1997), Suhrkamp

Niklaus Schefer: Philosophie des Automobils (2008), Fink

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.03.13

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