Strassburg rügt Schweizer Behörden wegen geplanter Abschiebung

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte setzt neue Standards in der europäischen Asylpolitik. Der Fall einer afghanischen Familien aus der Schweiz bewegt das Gericht zu einem Entscheid, der richtungsweisend für das Dublin-System sein könnte.

Blick auf den Europäischen Gerichtshof in Strassburg (Archiv) (Bild: sda)

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte setzt neue Standards in der europäischen Asylpolitik. Der Fall einer afghanischen Familien aus der Schweiz bewegt das Gericht zu einem Entscheid, der richtungsweisend für das Dublin-System sein könnte.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag sein Veto gegen die bedingungslose Abschiebung einer afghanischen Familie nach Italien eingelegt. Die Schweiz müsse individuelle Garantien für deren Unterbringung und Betreuung einholen.

Andernfalls wäre das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Mann sollte mit seiner Frau und seinen sechs minderjährigen Kindern nach Italien überstellt werden, dem Land, in dem er seinen ersten Asylantrag gestellt hatte. Die Rückschaffung in das sogenannte Erstaufnahmeland ist im Dublin-Abkommen vorgesehen.

Der Mann wehrte sich gegen die geplante Überführung nach Italien mit der Begründung, angesichts der prekären Zustände im dortigen Asylwesen sei die menschenwürdige Behandlung und Unterbringung nicht gewährleistet.

Nicht genügend Zusicherungen

Die Grosse Kammer des EGMR gab dem Mann recht, dass ohne individuelle Garantien der italienischen Behörden für eine dem Alter der Kinder angemessene Betreuung und eine gemeinsame Unterbringung der Familie Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt sei.

Ferner rügte eine Mehrheit der Richter die Schweizer Behörden, nicht genügend Zusicherungen besessen zu haben, um eine den Kindern angemessene Betreuung zu gewährleisten. Insbesondere fehlten detaillierte und verlässliche Angaben über die konkrete Unterbringung der Familie in Italien.

Normalerweise finden die Anhörungen zu solchen Beschwerden vor der Kleinen Kammer des EGMR statt. Diese hat Beschwerden gegen Überstellungen nach Italien bisher abgelehnt.

Kritik an der Abschiebepraxis

Den Fall des Afghanen hat die Kleine Klammer direkt an die Grosse übergeben. Diese Ausnahmeregelung kommt zur Anwendung, wenn ein Fall eine schwerwiegende Frage der Auslegung der Menschenrechtskonvention aufwirft oder die Entscheidung von einem früheren Urteil des EGMR abweichen könnte.

Kritik an der Abschiebepraxis gibt es seit einigen Jahren. Die Flüchtlingszentren in Italien seien überfüllt und würden nicht den internationalen Standards entsprechen, sagen Flüchtlingsexperten.

In Deutschland wehrten sich Richter gegen Abschiebungen nach Italien. Sie entschieden: Flüchtlinge dürften nicht gemäss Dublin-Verordnung nach Italien geschickt werden.

Rückführungen nach Griechenland sind seit einigen Jahren bereits untersagt.

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Der «Tages-Anzeiger» kommentiert das Urteil: «Blamage für die EU-Asylpolitik»

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