Die Schweiz hält die Menschenrechtskonvention ein und setzt Urteile des Strassburger Gerichtshofs um oder sie kündigt die Konvention und tritt aus dem Europarat aus. Dazwischen gibt es nichts, besagt eine neue Studie des Staats- und Verfassungsrechtlers Walter Kälin.
Landesrecht vor Völkerrecht fordern immer mehr politische Akteure in der Schweiz, und auch die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht zur Debatte. Welche Folgen dies oder die Nichtbeachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in Strassburg für die Schweiz hätte, hat der Professor und Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) Walter Kälin, in einer am Donnerstag vorgestellten Studie aufgezeigt.
Eine Kündigung der Konvention und ein Wiedereintritt mit Vorbehalten schliesst Kälin aus, weil ein solches Vorgehen gegen das Prinzip von Treu und Glauben verstösst. Zudem erlaubt der Wortlaut der EMRK keine Vorbehalte in Bezug auf künftig zu schaffende Normen des Landesrechts. Mit einem Vorbehalt kann der Konflikt mit Verfassungsinitiativen, die gegen die Menschenrechtskonvention verstossen, nicht gelöst werden.
Negatives Signal
Eine Kündigung der Konvention führt hingegen zum Sitzverlust im Europarat und wäre darüber hinaus ein negatives Signal auf die weiteren Mitgliedstaaten. Die Verbindlichkeit der EMRK würde in Frage gestellt. Dies zu einem Zeitpunkt, in welchem sich gemäss Kälin die Menschenrechtslage in Europa verschlechtert hat.
Die Menschenrechte würden in der Schweiz mit einer Kündigung der Konvention zwar weitestgehend eingehalten, sagt Kälin, weil «das schweizerische Recht meist deckungsgleich ist mit der EMRK».
Die Nichteinhaltung gewisser Fälle oder Fallgruppen durch die Schweiz hätte hingegen langwierige Auseinandersetzung mit den Organen des Europarates zur Folge. Diese üben konstanten Druck auf Länder mit Umsetzungsproblemen aus.
Auch wurde das Mittel von Pilot-Verfahren geschaffen, wenn sich aus der Sachlage ergibt, dass einer Beschwerde ein strukturelles oder systembedingtes Problem zu Grunde liegt. Der Gerichtshof bezeichnet in einem Piloturteil die Art der von ihm festgestellten Probleme und die Art der Abhilfe, die ein Staat zu treffen hat.
Juristische Entwicklungshilfe
Dick Marty, früherer FDP-Ständerat und langjähriger Abgeordneter der parlamentarischen Versammlung des Europarates, bezeichnete die EMRK an der Pressekonferenz als eine «Risikoversicherung» für Fehler und Missbrauch in der Rechtsprechung der Mitgliederstaaten. Der Gerichtshof für Menschenrechte habe unter anderem massgeblich dazu beigetragen, dass die Rechtsprechung in den osteuropäischen Staaten auf den heutigen Stand gebracht werden konnte.
Die Studie in Auftrag gegeben hat der Verein «Menschenrechte schützen» und die Arbeitsgruppe Dialog, hinter der eine Vielzahl von Nichtregierungs-Organisationen aus dem Bereich Menschenrechte stehen.
Die SVP schreibt in einem Newsletter zur Studie: «Linkes Parteigutachten will ausländisches Recht über demokratisches Schweizer Recht stellen». Sie verweist auf die Vorstösse, deren Ziel die Festschreibung des Vorrangs der Bundesverfassung vor internationalem Recht ist.