Tabu Miguel Gomes

«Ein Roman, das ist eine Erzählung, die sich als Welt präsentiert. Ein Film, das ist eine Welt, die sich als Erzählung präsentiert.» Der französische Cinéast Jean Mitry hat in den Siebziger Jahren versucht, die Erzählformen des Films in einem Begriff zu fassen. Irgendwo dort, in der bildlichen Ästhetik jener Jahre, setzt «Tabu» des Portugiesen Miguel […]

«Ein Roman, das ist eine Erzählung, die sich als Welt präsentiert. Ein Film, das ist eine Welt, die sich als Erzählung präsentiert.» Der französische Cinéast Jean Mitry hat in den Siebziger Jahren versucht, die Erzählformen des Films in einem Begriff zu fassen. Irgendwo dort, in der bildlichen Ästhetik jener Jahre, setzt «Tabu» des Portugiesen Miguel Gomes ein. In Innenräumen. In Wohnblockwohnungen. Mit porträtnahen Einstellungen. Schwarzweiss wie die damalige Welt der Kolonien.

Ein merkwürdiger Zauber liegt über den Dingen

«Ein Roman, das ist eine Erzählung, die sich als Welt präsentiert. Ein Film, das ist eine Welt, die sich als Erzählung präsentiert.» So hat der französische Cinéast Jean Mitry in den Siebziger Jahren versucht, filmische Erzählformen von literarischen zu unterscheiden. In der bildlichen Ästhetik jener Jahre, setzt «Tabu» des Portugiesen Miguel Gomes ein. In Innenräumen. In Wohnblockwohnungen. Mit porträtnahen Einstellungen. Schwarzweiss wie die damalige Welt der Kolonien.

Die Neunzigjährige Aurora erzählt hinter der Sonnenbrille: Wie sie ihr letztes Geld verspielte. Wie sie den Kontakt zu ihrer Tochter verlor. Warum sie ihre kapverdische Haushälterin verdächtigt, sie verhexen zu wollen. Pilar, ihre Nachbarin, kümmert sich mit Engelsgeduld um die Alte, holt sie im Casino ab, wenn ihr das Geld ausgeht, betet für sie. Sie stöbert auch den Geliebten, Gian Luca Ventura, den Aurora ans Sterbebett ruft, im Altersheim auf. Erst jetzt werden wir gewahr: Aurora hat ihre Jugend in Afrika verbracht, als weisse Farmerin auf dem schwarzen Kontinent.

In entschleunigtem Erzähltempo führt uns «Tabu» durch die letzten Tage der alten Frau und rollt dabei mehr als nur Auroras Gegenwart auf. Aurora will, ehe sie von uns geht, noch ihre Vergangenheit klären. Sie ist ihrer Liebe etwas schuldig geblieben – nicht nur ihrem Krokodil, dass sie verloren glaubt.

Irgendwo zwischen Kaurismäkis Lakonie und dem Aberwitz von Jaramusch sucht Miguel Gomes nach einer Form, seine Geschichte zu erzählen. Eine Art Kolonialgeschichte. Erst lässt er in bilderreicher Sprache eine Stimme die bilderarmen Einstellungen seiner Kamera kommentieren, und führt uns in das Privatlebens der exzentrischen Sterbenden – in ihrer schwarzweiss geschärften Weltsicht.

Aber ehe wir uns daran gewöhnt haben, wechselt Gomes – im Rückblick – das Genre, oder besser, erfindet es neu: Denn mit einem Mal sind wir in einem Stummfilm, der keiner ist, der vielmehr wohl den Ton kennt, das Plätschern des Wasser, das Hallen der Schritte, nicht aber die Laute des Dialoges, die Sprache der Figuren.  Die Kommentatorenstimme begleitet uns in der Kolonial-Vergangenheit durch eine merkwürdig dialoglosen Geräuschewelt, als sässen wir in einem bebilderten Hörspiel – als wollte Gomes mit dem Film die literarische Erzählung neu erobern.  So bleiben Auroras bevorstehende Niederkunft, ihre verhinderte Flucht mit dem Geliebten, ihr Rückzug wie die unvermeidliche Entlarvung, in ironischer Ferne. Die leidenschaftliche Dreiecksgeschichte bleibt eine poetische Traumwelt.


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