Der neue Tessiner Vorrang für einheimische Firmen im Beschaffungswesen verstösst zwar gegen keine Binnenmarktgesetze, könnte aber im Rahmen der bilateralen Verträge als diskriminierend eingestuft werden. Eine Reaktion Italiens steht noch aus.
Mit dem neuen Gesetz sollen im Bauwesen nun alle Aufträge der öffentlichen Hand bis zu einem Wert von 8,7 Millionen Franken nur noch an Betriebe mit Sitz in der Schweiz vergeben werden. Für Warenlieferungen und Dienstleistungen liegt dieser Höchstbetrag bei 350’000 Franken. Nur schon bei Kanton und Gemeinden betrifft die neue Vorschrift 90 Prozent aller Aufträge – ein Volumen von 940 Millionen Franken jährlich.
Damit umgeht das Tessin indirekt die internationalen Abkommen der Schweiz im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens, weil die Schwellenwerte im Gesetz gerade niedrig genug sind, um nicht in die Kategorie der WTO-Abkommen zu fallen. Allerdings sei durch das bilaterale Abkommen mit der EU der Geltungsbereich des WTO-Abkommens ausgeweitet worden, teilte der Mediensprecher des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), Fabian Maienfisch, am Dienstag auf Anfrage mit.
Konflikt mit der EU möglich
Dies bedeute konkret, dass sowohl die Schweiz als auch die EU bei Beschaffungen dazu verpflichtet seien, die «Anbietenden der anderen Partei» nicht zu diskriminieren.
Sowohl das WTO-Abkommen als auch das bilaterale Abkommen von 1999 stützten sich auf die «Grundsätze der Transparenz, der Nichtdiskriminierung», so Maienfisch. Die Abkommen würden Schweizer Anbietern wiederum Rechtssicherheit und den Zugang auf den Auslandsmärkten sichern.
Das Tessiner Beschaffungsgesetz war auch Thema an der Jahresmedienkonferenz der Wettbewerbskommission (WEKO) am Dienstag. Man stehe in Kontakt mit der Tessiner Regierung und wolle diese für die Bedeutung offener Märkte sensibilisieren, sagte WEKO-Präsident Vincent Martenet auf eine entsprechende Frage.
Eingreifen kann die WEKO hier aber nicht, wie Martenet festhielt. Dafür legitimiert ist die Behörde nur bei Beschränkungen des Binnenmarkts gemäss dem Binnenmarktgesetz – also wenn Unternehmen aus anderen Kantonen statt aus dem Ausland diskriminiert werden.
Nutzen fraglich
Neben der Frage nach der möglichen Verletzung der Bilateralen steht beim Tessiner Beschaffungsgesetz auch die Frage nach dem unmittelbaren Nutzen im Raum. Der Bundesrat hielt Ende 2014 in einer Antwort auf eine Interpellation der Tessiner Nationalrätin Roberta Pantani (Lega) fest, dass auf Bundesebene das Problem aus seiner Sicht nicht bestehe: 2012 und 2013 seien 90 Prozent aller Beschaffungszahlungen an einheimische Firmen geflossen.
Das Tessin hat mit seinem neuen Gesetz zum Beschaffungswesen vor allem die Konkurrenz aus Italien im Visier. Doch in welchem Masse wurden italienische Betriebe in der Vergangenheit überhaupt bei Ausschreibungen begünstigt?
Reaktion Italiens steht noch aus
Der Kanton Tessin veröffentlichte zuletzt für das Jahr 2015 eine Liste mit allen Mandaten, die 5000 Franken überschritten und direkt oder per Einladung erfolgten. Dabei fällt auf, dass in diesem Zeitraum überhaupt nur rund ein Dutzend Firmen aus Italien einen Zuschlag erhielt – bei einer Gesamtzahl von 2900 Ausschreibungen.
Bis auf eine Ausnahme lagen die erteilten Ausschreibungen immer unter dem Wert von 30’000 Franken. Eine Kommunikationsagentur aus Mailand wurde beispielsweise dafür beauftragt, in Italien eine Marketingkampagne für das erneuerte Kunstmuseum MASI in Lugano zu starten. Andere Aufträge erhielten Informatikanbieter aus dem südlichen Nachbarland.
Wie der Nachbar Italien auf die Tessiner Massnahme reagiert, war am Dienstag noch unklar. Eine entsprechende Anfrage der Nachrichtenagentur sda an den Präsidenten der Region Lombardei Roberto Maroni blieb unbeantwortet.
Weitere Pfeile im Köcher
Die richtig grossen Summen strichen aber andere ein: So erhielt beispielsweise eine holländische Agentur insgesamt 250’000 Franken für einen Informatikauftrag, ein deutscher Anbieter aus der gleichen Branche bekam 220’000 Franken für zwei Aufträge.
Weitere Probleme mit dem italienischen Nachbarn könnte durch die Umsetzung der «Prima i nostri»-Initiative entstehen, welche das Tessiner Stimmvolk im September 2016 angenommen hatte. Die zuständige Kommission hat kürzlich ihre Arbeit abgeschlossen, sodass das Geschäft noch in diesem Jahr ins Parlament kommen könnte.
Ärger bereite jüngst auch die Anwendung des neuen Gesetzes über die Gewerbebetriebe (LIA). Dagegen hatte die WEKO vor dem Tessiner Verwaltungsgericht Beschwerde erhoben. Das LIA verlangt, dass alle im Kanton tätigen Handwerksbetriebe gebührenpflichtig in einem Register eingetragen werden.