Weder Karte noch Wegweiser sind in diesem Teil von Wales eine grosse Hilfe – aber immerhin: Wir treffen in Llandrindod ein.
Vor zwei Jahren, auf einer Wanderung in Italien, von Piacenza nach La Spezia, zum Teil auf einem alten Pilgerweg, fragte ich unterwegs einen älteren Mann nach dem genauen Weg ins nächste Dorf. Er gab mir einige Tipps und fragte, was denn mein Ziel sei. «La Spezia.» «La Spezia?» fragte er. «Wirklich nach La Spezia?» Er schwieg eine Weile, sagte dann, dass La Spezia ohnehin keine Reise wert sei, er sei in seinem ganzen Leben erst zwei Mal dort gewesen – aber zu Fuss! «Weisst Du, was Du bist. Tu sei pazzo, pazzo, pazzo!»
Ist mir heute beim Wandern ein paar Mal in den Sinn gekommen, dieser Spruch. Ich weiss nicht warum. Pazzo – verrückt! Bin bei niesligem Wetter aufgebrochen in Llanidloes, einfach mal einer Strasse entlang, die in einer Farm endete. Dann über einen Hag gekletert, durch Schafweiden hoch und dann hörte ich ein Auto. Ging in dieser Richtung, fand die Teerstrasse, wanderte ihr entlang, bis ich einen Bauern traf, der – eben aus einem zerbeulten Ford gestiegen – einen Zaun flickte. Ich hielt ihm die Karte unter die Nase und gemeinsam fanden wir heraus, wo wir standen. Es war schwierig ihn zu verstehen, da er mein Ansinnen eigentlich überhaupt nicht begreifen wollte. Irgendwann erinnerte er sich, dass der Glyndwr´s Way hier vorbeiginge. Und er hielt mich an, immer geradeaus weiter zu gehen.
Ein toter Dachs am Wegrand. Verirrte Schafe auf der Strasse, ein SMS von Rino, der mir mitteilt, dass es in der Schweiz sommerlich warm sei, er zudem am gestrigen arbeitsfreien Pfingstmontag den ganzen Tag im Büro gehockt und Pläne gezeichnet habe – wie weit weg diese Welt ist!
Auf der Karte sehe ich eine Abkürzung ins nächste Dorf. Ich klettere wiederum über verschiedene Zäune, bis mir ein kleiner Traktor mit breiten Pneus, die das Absaufen im Moor verhindern – bis mir also so ein Moortraktor auf einer Weide entgegenfährt und der Bauer mir mitteilt, dass ich die Richtung wechseln solle. Freundlich und verwundert über den seltsamen Weidengänger zugleich. Sonst könnte ich verloren gehen.
Durch abgeholzte Wälder zu wandern, ist etwas sehr Betrübliches. Endzeitstimmung. Und immer schneller ziehe ich los, an einer einladend schönen Telefonkabine vorbei, in der sich wunderbare Gespräche vorstellen liessen. Doch es fällt mir jetzt grad niemand ein, mit dem ich telefonieren könnte. Zudem habe ich mein Handy. Und im weiteren windet es so stark in Bwylch-y-Sarnau, dass ich weiterschreite, vor drohendem Regen fliehe und, früher als mit Moni abgemacht, nach schliesslich lauschigem Spaziergang durch einen Nadelwald in Abbey-chwm-hir ankomme.
Uralte Grabsteine
Abbey-chwm-hir, ein Nest inmitten von alten Tannen mit trutziger Kirche und einem Turm der sich in halber Höhe wölbt, als hätte er etwas Dickes verschlungen. Uralte Grabsteine, zum Teil umgekippt, die ältesten beherbergen Tote, die vor meines Grossvaters Geburt die Welt verlassen haben. Das «Happy Union Inn» ist wie die Kirche geschlossen, die Häuser ringsum ohne Lichter. Eine Frau fährt heran, parkiert und sagt, das Gasthaus öffne erst abends um halb neun.
Moni holt mich ab, hat einige Kilometer weiter eine Unterkunft gefunden. Dem Gastgeber hat sie erklärt, dass ihr Begleiter nachkomme, zur Zeit noch auf Wanderung sei. Sie gab Start und Ziel an, erzählte auch, dass ich Mitte Woche mit ihr nach London fahre und dann wieder zurück, um die Strecke an die Küste zu Fuss zu gehen. Der Gastgeber fragt nach, fragt, ob ich wirklich wieder zurück gehe. Und dann: «That´s an idiot.» Und irgendwie gruselt mich – habe ich nicht den halben Tag lang an jenen Alten in Italien gedacht: «Pazzo, pazzo, pazzo.»
(Llandrindod, 21. Mai 2002)