«ThuleTuvalu» bringt Grönland und die Südsee einander näher

Schon Diogenes war über die Wasserverdrängung verblüfft. Jetzt verblüfft sie uns alle: Aber nicht in der Badewanne. Diesmal geht es um die Weltmeere, wie der Basler Dokumentarfilmer Matthias von Gunten zeigt. Wenn er die Geschichte erzählt, freut er sich wie ein kleines Kind. Sein Dokumentarfilm «ThuleTuvalu» führte die Ministerpräsidentin von Grönland, Aleqa Hammond, mit dem […]

Schon Diogenes war über die Wasserverdrängung verblüfft. Jetzt verblüfft sie uns alle: Aber nicht in der Badewanne. Diesmal geht es um die Weltmeere, wie der Basler Dokumentarfilmer Matthias von Gunten zeigt.

Wenn er die Geschichte erzählt, freut er sich wie ein kleines Kind. Sein Dokumentarfilm «ThuleTuvalu» führte die Ministerpräsidentin von Grönland, Aleqa Hammond, mit dem Präsidenten von Tuvalu (Südsee), Enele Sosene Sopoaga, zusammen. Zuvor besuchte der Basler Matthias von Gunten die Menschen an den zwei Enden des Erdballs, Inselbewohner, die bislang nichts voneinander und ihrem gemeinsamen Schicksal wussten.

«Rechnet man das Gesamtvolumen des Grönlandeises in Wasser um, wird das Meer sieben Meter steigen. Also wird das Leben der Menschen auf den beiden Inseln irgendwie miteinander verbunden sein, dachte ich mir, als ich sie zum ersten Mal bereiste.» Matthias von Gunten liess sich auf Thule aussetzen. «Die Fähre würde erst in ein paar Wochen wiederkommen. Das wusste ich, als ich zum ersten Mal an Land stieg.»

In der Nähe dieser Menschen ist die Natur automatisch nah

Dann freundete er sich mit einem Jäger an. «Vier Tage in der leeren Weite des Eises, das ist mit Bildern kaum fassbar.» Tagelang fuhr er hinter Schlittenhunden in die Weite der schmelzenden Eiswüste. Und ein Gedanke liess ihn nicht los: Wie sieht es am anderen Ende des Erdballs aus, wo all das Wasser ankommt?

«Ich versuche Bilder zu finden, die das Denken frei machen»: Matthias von Gunten.

«Ich versuche Bilder zu finden, die das Denken frei machen»: Matthias von Gunten.

«Mein Kameramann Pierre Mennel und ich, wir haben mit diesen Jägern über Stunden hinweg nur in das Weiss hinausgestarrt und darauf gewartet, dass sich etwas bewegt. Während unter unseren Füssen das Eis schmolz, warteten die Jäger darauf, dass sich ein Tier regt. Jäger reagieren aber auch auf andere, feinste Schattierungen und Veränderungen.»

Die beiden Seiten der Medaille

Dann fuhr er nach Tuvalu. Dort lebte er mit den Fischern am Strand unter sterbenden Palmen. « Ich will keinen Klimafilm machen. Ich will Menschen kennenlernen. Ich will diese Meeresbewohnern aufnehmen, wie sie die Veränderung im Gleichgewicht der Natur realisieren. Fischer beobachten jede Welle des Meeres, belauschen jedes Plätschern.»

Dabei folgte der Basler Matthias von Gunten seit Jahren einer einfachen Vermutung: Südseeinsel und Nord-Insel sind zwei Seiten derselben Medaille.

«Der Fischer und der Jäger, mit denen ich heute befreundet bin, haben sich nie kennengelernt: Sie lassen mir heute per E-Mail Briefe schreiben. Wenn ich lese, wie sie sich aus der Ferne begegnen, bin ich total glücklich: Auf meiner Face-Book-Seite sind 80% der Einträge seit Neuestem über die filmische Begegnung der beiden.»

«Ich habe unglaublich offene Menschen in beiden Ländern getroffen. Ich wusste allerdings lange nicht, wie ich die Geschichte von Menschen verbinden könnte, die nichts voneinander wissen, ausser, dass sie auf dem gleichen Planeten leben. Dabei verbindet sie der grösste Lebensraum der Erde – das Meer …»

Doch schwebt von Gunten nicht ein Retour à la nature vor. «Ich versuche Bilder zu finden, die das Denken frei machen: Wenn ich eine Waljagd zeige, in der Menschen vor ihrer Haustür Tiere als einzige Ernährung nutzen, stelle ich naturnahes Leben dar. Ich stelle Fragen. Die Meinung kann sich der Zuschauer selbst machen.»

Das globale Dorf am Meeresstrand

Am Rande der Umweltkonferenz in New York trafen sich dann die Regierungschefs der beiden Länder und tauschten sich aus. «Eine der wichtigsten Erfahrungen war für mich das Kennenlernen der Lebensformen in diesen beiden Ländern: Sie besteht eigentlich nur aus Nahrungsbeschaffung. Das ist der Motor der Begegnung für diese Menschen. Das wurde auch der Motor des Films.»

Nord- trifft Südhalbkugel: Aleqa Hammond (Grönland) und Enele Sosene Sopoaga (Tuvalu) bei der Klimakonferenz.

Nord- trifft Südhalbkugel: Aleqa Hammond (Grönland) und Enele Sosene Sopoaga (Tuvalu) bei der Klimakonferenz.

Das Zusammenleben mit den Meeresanwohnern hat auch den Basler verändert: «Ich habe realisiert, dass ich noch nie eine Pflanze gepflanzt habe, um sie zu essen. Ich habe noch nie ein Tier getötet, um mich zu ernähren. Natur findet für mich nur zwischen Teller und Toilette statt.»

Wenn ich ihn frage, ob er denn nun begonnen habe zu pflanzen, lacht er nur: Nein! «Aber ich denke über vieles nach. Wenn ich Auto fahre, bewege ich meine achzig Kilo mit Hilfe von 1500 Kilo Auto. Das machen die Tuvalu nicht. Die nutzen alles, jede noch so kleine Energie, die die Natur ihnen bietet, ohne sie zu missbrauchen oder über Energieeffizienz per Twitter nachdenken zu müssen. Sie könnten nie leben wie wir. Aber sie reden nicht von der Natur. Sie sind die Natur.»

Matthias von Gunten lebt in Zürich. Wenn er Auskunft geben soll, was der Film bei ihm bewirkt hat, denkt er lange nach, als müsste er eine lange Liste erst ordnen: «Ich empfinde Regen nicht mehr als schlechtes Wetter. Ich bin auch bescheidener geworden: Wir stehen vor einer unglaublich komplexen Entwicklung der Natur.»

Dafür hat er jetzt einen Film gedreht. «ThuleTuvalu» macht es uns etwas einfacher, über einen komplexen Tatbestand nachzudenken: Wir lernen Menschen kennen, für die langwierige Entwicklungen bereits Folgen zeigen, weil sie so nahe an der Natur leben. 
 

Das Fass Meer ist am Überlaufen

So stellt denn der Film eine denkbar einfache Frage: Wenn an einem Ende der Badewanne ein Eisklumpen schmilzt, dann steigt am anderen Ende der Wasserspiegel. Wenn Rasmus Avike oben in Grönland darüber klagt, dass die meterdicke Eisschicht, die ihm einst die Jagd erlaubte, heute auf wenige Zentimeter geschmolzen sei, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn unten in der Südsee Patrick Malacki besorgt ist, weil der Meeresspiegel steigt.

Patrick zeigt auf die entwurzelten Kokospalmen, die das Wasser unterspült hat. Der höchste Punkt seines Landes liegt gerade mal noch vier Meter über Meer. Ein Dezimeter mehr Meereshöhe bedeutet einen Meter höhere Wellen.

Fast nebenbei führt Matthias von Gunten uns in «ThuleTuvalu» vor Augen, was das verniedlichende Wort Klimawandel meint. Er sucht nach dessen Auswirkungen auf Menschen und Strände, die wir nur als Urlaubsziele kennen.

«ThuleTuvalu» führt es uns vor Augen: Unter den Füssen des Jägers aus Grönland schmilzt das Eis. Unter den Füssen des Fischers am Südseestrand spült das Wasser den Sandboden weg. Das Fass Meer ist am Überlaufen.

Auf Tuvalu verdorren die Palmen.

Auf Tuvalu verdorren die Palmen.

Globalisierung der Umweltsünden

Von Gunten nähert sich den Menschen subtil. Kaum will man sich im Weltenrettergestus einkuscheln, da knallts! Der Jäger streckt mit einem Blattschuss eine Robbe nieder. Der Fischer bricht dem Fisch das Genick. Nicht nur eingefleischte Vegetarier zucken jetzt zusammen.

Matthias von Gunten beherrscht die Kunst, eine Diskussion mit Bildern anzureissen. Er zeigt die Tötung eines Wals, um uns darauf hinzuweisen, dass es nicht nur bald der letzte Wal sein könnte, den wir retten möchten. Unsere Sorge könnte vielleicht auch bald den Menschen gelten, die ihn töten, um zu überleben.

Jäger und Fischer blicken an zwei entlegenen Orten der Welt sorgevoll auf ein und dasselbe Meer hinaus. In der Südsee bleibt dem Fischer nur zu beten. Im Norden muss der Jäger dran glauben. Wie nahe die beiden Meeresanwohner sich stehen, ahnen nur wir. Der sensible Schnitt von Caterine Mona zeigt es.

Als im Norden ein Schlitten übers schmelzende Eis rast, fliegt im nächsten Bild im Süden ein verdörrender Palmenhimmel über unsere Köpfe hinweg. Der Name «ThuleTuvalu» ist Programm. Wir sind im globalen Dorf, in dem der Jäger in Thule einen seiner Schlittenhunde aus einer neu klaffenden Wasserspalte rettet und sich dabei ähnlich hilflos fühlt wie der Fischer in der Südsee, der seinen Setzlingen helfen will, mit Salzwasser zu leben: «Sie werden überleben. Sie haben robuste Wurzeln.»

Matthias von Gunten entwickelt mit seinem Kameramann Pierre Mennel eine grausame Poesie: eine illusionslos schöne Art, über die Welt nachzudenken – und über die nächste Urlaubsreise.

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Der Film läuft in den kult.kinos.

 

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