Der deutsche WADA-Ermittler Günter Younger spricht in einem Interview erstmals über die Aufdeckung des grossen Doping-Skandals in Russland. Laut Youngers Aussagen ist alles noch viel schlimmer.
Der gigantische Doping-Skandal in der russischen Leichtathletik ist wahrscheinlich noch weitaus grösser, als ohnehin schon bekannt. Darauf lassen Interview-Aussagen von gleich zwei der drei beteiligten Ermittler der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA schliessen. «Wenn wir diese Informationen in die Welt geben, wird es einen Wow-Effekt geben», sagte Richard Pound, der Leiter der Ermittlungskommission, dem britischen «Independent» über einen noch im Dezember oder Januar folgenden zweiten Report seines Teams.
Auch der deutsche WADA-Ermittler Günter Younger zeichnete gegenüber der «Süddeutschen Zeitung» ein Schreckensbild von den Verhältnissen, auf die er bei seinen Nachforschungen in Russland traf. «Die Betrugskultur zu entwurzeln, wird Jahrzehnte dauern. Da muss man auch fair sein und dem Land Zeit geben», sagte der Polizeibeamte des Bayerischen Landeskriminalamts. «Vereinzelt wurde sogar weiter gedopt, während wir dort waren.» Einer der Befragten habe den WADA-Ermittlern «ins Gesicht gesagt: Egal, was ihr hier macht, es wird sich eh nichts ändern.»
Nach Auffassung von Younger ist der Skandal keineswegs nur auf die Sportart Leichtathletik und das Land Russland beschränkt. Er habe nur «in einen kleinen Teil des Sports geschaut», erklärte der 48-Jährige. «Nur wenn wir sehen, dass der ehemalige Chefarzt Portugalow nicht nur Leichtathleten, sondern auch Biathleten und Schwimmer betreute – warum sollte er es dort anders gemacht haben?»
Younger forderte eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung der WADA und die Einstellung von deutlich mehr hauptamtlichen Ermittlern. «Wenn ich lese, dass die WADA mit 26 Millionen Dollar pro Jahr auskommen muss, während das IOC Milliarden einstreicht – da hoffe ich, dass die Agentur aufgerüstet wird», sagte er. «Und dann müssen sie als Erstes nach Kenia laufen, ganz schnell. Mit dem gleichen Aufwand, den wir in Russland betrieben haben.» Seiner Meinung nach stehe gerade «die Glaubwürdigkeit des gesamten Sports auf dem Spiel. Ich sehe bei Kenia einige Hinweise, da würde ich als WADA sofort sagen: Das sollte unser nächstes grosses Ziel sein.»
Younger gehört wie der frühere WADA-Chef Pound und der kanadische Sportrechtler Richard McLaren zu jener Kommission, die im Auftrag der WADA die ARD-Enthüllungen über systemisches Doping in der russischen Leichtathletik untersucht hat. Anfang November veröffentlichte die Kommission einen schockierenden Report über eine tief verwurzelte Doping-Kultur, an der neben Trainern, Athleten und Ärzten auch staatliche Instanzen und Kontrolllabore beteiligt sind.
In der Folge suspendierte der Weltverband IAAF die russischen Leichtathleten zumindest vorerst von allen Grossereignissen wie den Olympischen Spielen 2016. An diesem Mittwoch und Donnerstag treffen sich zudem in Frankfurt am Main Vertreter der WADA und des russischen Sportministeriums. Der Ort des Treffens und mögliche Ergebnisse sollen aber zunächst einmal geheim gehalten werden.
Pound geht trotz allem davon aus, dass die russischen Athleten bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro starten werden. Ihn und Younger eint ein tiefes Misstrauen gegen die grossen Sportverbände. «Man kann viele Skandale einfach aussitzen», sagte Younger. «Das Doping-Thema ist ein unangenehmes, das will man nicht haben. Das ist das Verneinen des Offensichtlichen.»
Ihm sei wichtig gewesen, dass der langjährige IAAF-Chef Lamine Diack «von der Justiz belangt und nicht nur von irgendeiner Ethikkommission für 80 Tage gesperrt wurde. Die eine Nacht, die der im Gefängnis verbracht hat, wird Eindruck hinterlassen haben.»
Der frühere Leiter des Drogendezernats bei Interpol schilderte in dem «SZ»-Interview auch ganz konkrete Fälle, die er bei seinen Ermittlungen erlebt habe. Bei der Hallen-WM 2015 in Prag etwa habe er eine russische Athletin getroffen, «so was habe ich noch nie erlebt. Ich habe ihr gesagt: Wir kommen von der WADA, wir würden mit Ihnen gerne ein Interview führen. Die hat nur geschrien: »Ich sehe Sie nicht, ich höre Ihnen nicht zu«», erzählte Younger.
Der Sportsoziologe und frühere Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands, Eike Emrich, geht deshalb davon aus, «dass sich absolute Höchstleistungen und Ehrlichkeit partiell ausschliessen. Der internationale Sport verkauft direkt beobachtbare Höchstleistungen und den Glauben an die nicht direkt sichtbare Dopingfreiheit», sagte er der Zeitung «Die Welt». «Offensichtlich sind momentan Investitionen in den Anschein von Ehrlichkeit lohnender als die Ehrlichkeit selbst.»