Toleranz hört bei der Intoleranz auf

Unser Leser Hans Jörg Martens hat sich über ein Interview von Sibel Arslan aufgeregt. Nicht darüber, was die Nationalrätin sagte, sondern was sie nicht sagte. Er schreibt: «Wer klare Konzepte nicht verteidigt, begeht politischen Selbstmord zugunsten der Populisten.» Ein Gastkommentar. Unser Leser Hans Jörg Martens hat sich über ein Interview von Sibel Arslan aufgeregt. Nicht […]

Unser Leser Hans Jörg Martens hat sich über ein Interview von Sibel Arslan aufgeregt. Nicht darüber, was die Nationalrätin sagte, sondern was sie nicht sagte. Er schreibt: «Wer klare Konzepte nicht verteidigt, begeht politischen Selbstmord zugunsten der Populisten.» Ein Gastkommentar.

Unser Leser Hans Jörg Martens hat sich über ein Interview von Sibel Arslan aufgeregt. Nicht über das, was die Nationalrätin sagte, sondern darüber, was sie nicht sagte. Er schreibt: «Wer klare Konzepte nicht verteidigt, begeht politischen Selbstmord zugunsten der Populisten.» Ein Gastkommentar. 

Vom Interview in der Rundschau (SRF1, 2. März 2016) mit Nationalrätin Sibel Arslan war ich sehr enttäuscht. Es ging um den Fall eines islamischen Fundamentalisten von St. Margarethen, der die Integration verweigert. Frau Arslan wollte dazu nicht konkret Stellung nehmen, was ich ein Stück weit verstehen kann, denn seine Verurteilung ist noch nicht rechtskräftig.

Aber hätte es ihr so weh getan, zur so ungern diskutierten Frage «Menschenrechte und Verfassung gegenüber der Scharia» einen Grundsatzkommentar abzugeben? Als Grossrätin, als Nationalrätin und als Juristin?

Die Frage der Zuwanderung enthält ein riesiges Spektrum an Wirkungen und Nebenwirkungen, die ich hier nicht ausbreiten will. Es ist aber politisch gefährlich, diese Diskussion zu verdrängen! 

Genau diesen politischen Unterlassungsfehler hat Angela Merkel begangen. Als sie im Herbst die «Willkommensgesellschaft» ausgerufen hatte, hatte ihr keiner gesagt, dass sie ihrem Volk zuerst das Migrationsproblem erläutern muss, in seiner ganzen Komplexität, mit allen Chancen, Risiken und Nebenwirkungen, mit Verpflichtungen und Zielkonflikten. Zu einer sauberen Differenzierung betreffend Migration siehe zum Beispiel den Artikel von Bassam Tibi, veröffentlicht 2008 vom Deutschen Bundesamt für Politische Bildung (sic!).

Mit ihrer Haltung hat Frau Merkel der Rechten, von Seehofers CSU bis zu den Rechtspopulisten wie Pegida, eine Steilvorlage geschenkt. Ihre Bemerkung dazu – sie hat sie später wiederholt: «…sonst ist das nicht mein Land», zeigt, dass ihre Motivation zwar moralisch hochanständig, aber politisch nicht wohlüberlegt war. Das Problem ist, wie erst jetzt im Nachhinein debattiert wird, sehr viel komplexer. Dieser Fehler schwächt ihre Position erheblich.

Der Teilaspekt der Frage, das Verhältnis zwischen der Verfassung, der Toleranz und des Fundamentalismus ist weniger komplex. Hier der Versuch einer Zusammenfassung:

  • Unsere höchsten Güter des Rechts, ja der Zivilisation überhaupt umfassen unter anderem die Menschenrechtskonvention (EMRK), die Verfassung, die Gewaltentrennung und das, was vom Sozialvertrag noch übrig geblieben ist. Zur Gewaltentrennung gehört auch die Trennung von Kirche und Staat, auch wenn noch einige Relikte bestehen wie das Inkasso der Kirchensteuer durch die «Landeskirchen» oder die Präambel in der Bundesverfassung («Im Namen Gottes des Allmächtigen», eine Diskriminierung der «Gottlosen»).

  • Die Utopie der EMRK gilt, wenigstens formaljuristisch, in der ganzen EU.

  • Als eine der Folgen der Globalisierung kann eine moderne Demokratie höchstens als multikulturell konstituiertes Gebilde überleben. Ein Werte-Konsens über den erstgenannten Punkt hinaus umfasst immer nur begrenzte Gruppierungen unserer Gesellschaft; ohne faire Kompromisse kann es keine friedliche Gemeinschaft geben.

  • Das Ganze soll natürlich einen Rahmen für eine optimale Lebensqualität aller Bewohner bilden. Welche Werte und Ziele dazu gehören, soll hier nicht untersucht werden.

  • Ein sehr hohes Gut unserer Kultur ist unsere Verpflichtung zu humanitärer Hilfe, einerseits mit dem Asylgesetz und andererseits auf freiwilliger, privater Basis.

  • Beim Konsens über die ethischen Ziele wird die Chose allerdings richtig kompliziert! Denn unsere moralischen Ideale und Vorstellungen sind individuell verschieden, emotional stark besetzt und werden mit dem rechtlichen Rahmen unbewusst oder vorsätzlich vermengt. Recht gilt aber allgemein und verbindlich, moralische Werte muss hingegen jeder individuell und privat finden. Wir haben ja die absolute, sogar von Fakten unbeschwerte Meinungsfreiheit. Daher dürfen wir sowohl die moralischen Massstäbe unserer Mitmenschen und sogar bestehende Gesetze als falsch oder unmoralisch einstufen und für Änderungen werben.

  • Dank der absoluten Meinungsfreiheit muss sich anscheinend keiner darum kümmern, ob seine Meinung, so wie sie in seinen eigenen, privaten Lebensumständen entstanden ist, mit den Zielen und Grenzen der Gemeinschaft überhaupt verträglich ist. Verträglich mit der Gemeinschaft, in der er lebt, von der er lebt, und die ihn erst dazu gemacht hat, was er heute ist. Es könnte daher so aussehen, als ob die grossen Begriffe wie Meinung, Freiheit, Verantwortung und Fairness, Toleranz und Respekt gar nichts miteinander zu tun hätten!

  • Migranten aller Art sind erstmals Fremde. Sogar deren Kinder, die Secondos werden als Fremde oft mit Misstrauen wahrgenommen. Der erste Reflex: Man will uns all das, was wir erarbeitet und verdient haben, wegnehmen, auch unsere Kultur (was immer das sein soll)! Und überhaupt sind sie anders und passen gar nicht zu uns. Womöglich bedrohen sie sogar unsere Sicherheit.

  • Nach einem langen, beidseitigen Kommunikations- und Lernprozess («nicht richtig oder falsch!, einfach anders – und das ist auch gut») kommt eine harte Grenze, auf der wir unbedingt beharren müssen: Intolerante Gesinnungen sind nicht verträglich mit unseren oben skizzierten Regeln der multikulturellen Gemeinschaft. Es kann keine Toleranz gegenüber Intoleranten geben. Dies gilt für jede Form des Fundamentalismus, der nicht einmal die EMRK und den konsequent säkularen Staat anerkennt.

  • Wir sind nicht alle Brüder. Die Tricolore «Freiheit–Gleichheit–Brüderlichkeit» ist nur eine coole Kampfparole. Sie bleibt wichtig und nötig. Während der Umsetzung kommt aber die grosse Fussarbeit der Differenzierung auf uns zu:

    > Freiheit hat den Preis der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft.
    > Gleichheit kann es nur bei den Chancen geben. Was einer aus sich macht und machen kann, ist niemals gleich. Wir wollen ja auch individuell, also eben gerade ungleich sein!
    > Brüderlich will ich mein Haus und mein Brot nicht mit einem Fanatiker teilen.

  • Wenn wir den tiefen Konflikt der Fundamentalisten mit den Rechts- und Moralnormen unseres Landes mit allerhand Wischiwaschi vernebeln, und ebenso hilflos wie im genannten Fall unangebracht nach «Religionsfreiheit», «Toleranz», «Humanität» oder «Kommunikation» etc. rufen, dann tun wir unseren gegenseitigen Bemühungen um Integration einen Bärendienst.

  • Als Reaktion darauf schüren die Populisten Angst und Hass, nehmen eine pauschale Trennung in weisse und schwarze Schafe vor – und stürmen dankbar mit ihren Hau-Ruck-Durchsetzern auf die Bühne der Politik.

  • Es ist höchste Zeit, dass die politische Linke, aber auch die Parteien der Mitte endlich klar und grundsätzlich Stellung beziehen. Unsere gesellschaftlichen Ziele müssen sorgfältig diskutiert werden, denn die Welt verändert sich, ohne uns zu fragen. Sie tut dies in einem ungesunden Tempo. Wer diese emotional aufgeladenen Themen verdrängt und zu feige ist, klare Konzepte zu verteidigen und zu kommunizieren, der begeht politischen Selbstmord zugunsten der Populisten, den wir seit Jahren beobachten – und jammert noch darüber. Tragikomisch ist das.

  • Wann endlich werden die Bischöfe, Imame und Rabbiner in der Schweiz verpflichtet, die Menschenrechte (inklusive die rechtliche Gleichstellung der Frauen!) verbindlich anzuerkennen und sich positiv zu unserem säkularen Staat – in dem sie und von dem sie leben – zu bekennen? Wann werden sie sich endlich von ihren archaischen Regeln aus der Antike distanzieren, die im Alten Testament, in Talmud oder Koran noch immer gelehrt und gepredigt werden?

    Ich weiss, dass es viel Mut braucht, all dies als Politiker zu fordern. Doch wir wollen ja eine multikulturelle, tolerante und gewaltfreie Gemeinschaft. Und das heute, wo die Migration an die Grenzen des Machbaren stösst (nicht einmal primär aus materiellen Gründen – wir sind reich), sondern wegen der fehlenden breiten Akzeptanz der Konsequenzen und Nebenwirkungen der mulitkulturellen Gemeinschaft.

  • Fazit: Politische Parteien haben einen Bildungsauftrag. Gouverner c’est prévoir.

  • Und: Unser Volk ist nicht blöd. Aber man muss ihm die Zusammenhänge erläutern und die Ziele ebenso wie die Kompromisse sorgfältig, mühsam und gemeinsam erarbeiten. Leadership muss deswegen nicht in Hirnwäsche ausarten. Elite ist nicht der Feind des Volkes…

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Dr. Hans Jörg Martens war als Metallurge in der Industrie in Forschung und Entwicklung tätig. Er ist heute unabhängiger Berater beim Seco und beschäftigt sich mit aktuellen Gesellschaftsfragen.

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