Buchreview zu „Transparenzgesellschaft“ von Byung-Chul Han (2012) //
Der gläserne Mensch ist längst keine dystopische Zukunftsprognose mehr, sondern Realität mit utopischer Verheissung. Mark Zuckerberg sieht es als Facebooks Mission an, die Menschen und ihren Umgang miteinander so offen und transparent zu machen wie nur möglich. Seine Rechnung: „The world will be better if you share more!“ Natürlich gibt es für Zuckerberg noch andere Rechnungen, allen voran Facebooks Aktienrendite. Die hängt stark vom Verkauf der Nutzerdaten für personalisierte Werbung ab und verweist somit auf ein weniger philanthrophisch motiviertes Interesse an grösstmöglicher Transparenz. Aber die wirtschaftliche Ausbeutung des öffentlich gemachten Privaten (datamining) ist kein Geheimnis, ebenso wenig die damit mögliche permanente Überwachung unseres Daseins (dataveillance). Unterbelichtet sind hingegen die psychologischen Voraussetzungen und Konsequenzen des Transparenzgebots, die der Philosoph Byung-Chul Han in seinem schmalen Buch „Transparenzgesellschaft“ diskutiert.
Wovon handelt das Buch? Transparenz ist für Han zunächst ein Zwang des gesellschaftlichen Systems, das dadurch seine Prozesse effektiver und – mittels digitaler Informationsverarbeitungstechnologie – rationaler gestalten kann. Für den Menschen aber ist Transparenz ein zweischneidiges Schwert. Radikale Offenheit nimmt der Kommunikation selbst das Offene, denn wenn alles im Detail bekannt ist, gibt es nur noch passgerechte Entscheidungen oder eben Kombinationsfehler. Denken ist dann nicht mehr als Rechnen – ohne Risiko der Fehldeutung und ohne die Produktivität des Missverständnisses. Enthält Kommunikation Leerstellen und strategische Ambivalenzen, ergibt sich hingegen ein Spielraum im Ausgang, den man strategisch nutzen kann.
Was ist die zentrale These? Der Mensch ist nicht einmal sich selbst transparent, wie kann er es dann anderen gegenüber sein. Han unterstellt, dass der Mensch gar nicht weiß, was er von sich preisgibt. Denkt man Han weiter, ist die Transparenzgesellschaft die Permanenz einer psychoanalytischen Sitzung, wobei der Analytiker nicht die Gesprächspartner im sozialen Netzwerk sind, sondern der Algorithmus, der sich im Stillen aus unseren Daten seinen Reim über uns macht.
Lieblingssatz: „Evidenz lässt kein Verführen, sondern nur ein Verfahren zu.“
Transparenz, so erklärt Han, vernichtet die Spiel-Räume der Lust. Wäre Han auch Empiriker, hätte er diese Aussage an Online-Dating-Sites illustrieren können.
Schlagworte aus dem Buch? Positivgesellschaft, Evidenzgesellschaft, Enthüllungsgesellschaft, Pornogesellschaft. Pornogesellschaft? Han geht es um die Nacktheit im metaphorischen Sinne – als Verlust des Geheimnisses. Erotik braucht das Geheimnis, wird ohne es zur Pornografie. Han operiert mit Jean-Paul Sartres Begriff des Obszönen (die Reduktion das Körpers auf die Faktizität des Fleisches) und setzt ihn auf die Prozesse des Gesellschaftskörpers an: „Sie werden obszön, wenn sie jeder Narrativität, jeder Richtung, jeden Sinns entkleidet werden.“ Das Obszöne der Transparenzgesellschaft liegt darin, dass die Dinge nicht mehr theoretisch oder narrativ eingekleidet werden, sondern als nackte Tatsachen dastehen: als Evidenzen unseres Online-Verhaltens, zum Teil vom Algorithmus automatisch in unserer Facebook-Chronik vermerkt.
Gibt es Probleme mit dem Buch? Han nimmt sich keine Zeit für mögliche Gegenargumente, wie etwa die narrativen Verhüllungs- bzw. Einkleidungsstrategien der Selbstinszenierung auf Facebook. Auch seine medienphilosophischen Erörterungen sind alles andere als einsichtig. Zum Beispiel zur Fotografie, der Roland Barthes, wie Han referiert, einst eine Grundstimmung der Trauer nachsagte, weil ein Foto immer einen vergangenen Augenblick festhält, also vom Vergehen und damit vom bevorstehenden Tod kündet. Bei Han verschwindet diese Negativität der Fotografie, weil das digitale Foto kein Negativ kennt. Damit altert es zwar in der Tat nicht mehr, aber das Dargestellte kündet trotzdem von einem Hier und Jetzt, das vergangen ist, und bewahrt somit seine melancholische Struktur. Han deklariert eher, als er argumentiert (es gibt fast nur Hauptsätze, kaum Konjunktionen und einige rein assoziative Zitatsammlungen), was oft inspirierend ist, mitunter aber auch konfus oder falsche Fährten legt.
Warum sollte ich das trotzdem Buch lesen? Weil es in seiner assoziativen Art eben auch inspirierend ist (wie etwa das erzähltheoretische Konzept des Pornografischen) und weil aus philosophischer Perspektive sich Verbindungen ergeben, die sonst kaum diskutiert werden. Zum Beispiel zu Jean-Jacques Rousseau, der mit seinen Bekenntnissen schon Ende des 18. Jahrhunderts die Offenheit zur gesellschaftlichen Norm und die Authentizität zu einem kulturellen Wert erhoben hatte – und deswegen übrigens auch gegen den Bau eines Theaters in Genf war, ist ein Theater doch ein Ort der Verstellung, an dem man sich erregt zeigt, wenn man es gar nicht ist, und sagt, was man nicht denkt.
Ist Mark Zuckerberg also der Rousseau unserer Zeit, der die gleichen moralischen Vorstellungen mit Programmierfähigkeiten statt philosophischer Rhetorik vertritt?
Woran erinnert Sie das Buch? An ein Traktat oder Pamphlet, das sich indirekt Alexander Pscheras „Apologie der sozialen Medien“ (im gleichen Jahr im gleichen Verlag erschienen) entgegenstellt.