Gleichförmig alles, kaum Aufregungen in dieser in sich ruhenden Gegend. Das Hotel Lion d’Or gefällt mir so, dass ich wieder einmal einen Tag ohne Rucksack wandere und abends zurückkehre.
Das Lion d´Or in Janzé ist wahrscheinlich im neunzehnten Jahrhundert mal ein Hotel geworden, so genau weiss es auch die Wirtin nicht. Sie ist schon seit Jahrzehnten hier, ordentlich und trotz ihrer Korpulenz schnell, nicht wendig, aber schnell. Sie stellt die Rechnungen gewissenhaft in Euro aus, denkt aber noch in alten Francs. Das erfordert geistige Beweglichkeit. Gänge und Zimmer sind alle im gleichen, leicht mit dunklen Karos überzogenem Grün ausgelegt, jahrealte Spannteppiche, leicht abgewetzt und deshalb gräulich. Da und dort ein Brandflecken von schlecht gelöschten Zigaretten, aber sauber, ordentlich. Der Spannteppich zieht sich an den Bettgestellen hoch, auch sie sind eingekleidet, seit Jahren stehen die Betten am gleichen Ort.
Eine gewisse Ruhe geht aus von diesen Zimmern, eine Ruhe, die unvermittelt in den Schlaf drängt und trotz Verkehr auf der Strasse unter mir, schlafe ich lang und tief und erwache erst um neun. Frage beim Frühstück um eine weitere Nacht, das Zimmer ist noch frei, und ich hatte auch nichts anderes erwartet. Nehme mir einen geruhsamen Tag vor, das Gepäck bleibt hier, abends mit dem Zug zurück. Den Aussichtspunkt soll ich besuchen und nachher die Mühle untendran – La Franceule – hat mir ein Bauer geraten. Passt zur Stimmung, die meine Lektüre «Lettres de mon Moulin» von Alphonse Daudet vermittelt. Eine Hochzeitsschleife liegt am Dorfausgang neben dem Ortsschild. Ein Brauch hier? Zeichen einer Tragödie oder einfach ein Missgeschick?
Eine etwa hochgeratene Kapelle
Kleine Strässchen, an Höfen und Häusern vorbei, irgendwann ein Feldweg, der in Richtung der gesuchten Anhöhe führt – neunundachtzig Meter über Meer, eine Kapelle soll dort stehen. Der Feldweg endet, wie fast alle hier, vor einem Getreidefeld, diesmal Gerste. Ein Weitergehen über das Feld wäre Frevel, ich umgehe es – habe Zeit, heute keine grosse Strecke vor mir, will die Landschaft anschauen, etwas herumtrödeln. Hinter einer Hecke seh ich das Türmchen der Kappelle – Chappelle Ste Anne. Etwas hochgeraten ist sie, steht in ihrem Grau ein bisschen ungelenk in der Landschaft. Und doch: In ihrer besonders ungewohnten Architektur und vielleicht, weil es seit langem die erste Kapelle auf meinem Weg ist, setz ich mich hin und zeichne sie. Ein schöner Rundblick, überall stecken Kirchtürme ihre Spitzen in die wellige Landschaft. Weit hinten leuchten die weissen Hochhäuser von Rennes.
Der Weg zur Mühle dann wieder querfeldein, an einem Kanal vorbei, hinter dem ein Schlösschen auftaucht – es geht voran, hier liegen Maisfelder, junge Pflänzchen erst. Und gut gedüngt. Es stinkt mindestens so stark nach Dünger wie in den Gewächshäusern bei Almeira in Spanien. Die Mühle liegt still und verwunschen an einem Bach, der sich etwas oberhalb zu einem grossen Weiher staut. Im Wäldchen ringsum herrschaftliche Gebäude, ein Schloss zudem. In einzelnen Räumen sehe ich Lampen brennen, aber nirgends einen Menschen, nicht mal einen Hund, der angeben würde. Schläft hier Dornröschen?
En Panne!
Überhaupt: Auf dem Weg nach Retiers komme ich immer häufiger an Schlössern vorbei. Mit hohen Türmen manchmal, in grossen Parkanlagen. Da und dort brennt ein Licht in dunklen Fensteröffnungen. Die Fauna üppig, Glockenblumen, Margeriten, eine riesige Zahl von immer anderen Gräsern. Ein Lastwagen steht mitten auf einer Kreuzung. En Panne! Der Fahrer ist sichtlich sauer, war eben auf einem nahen Bauernhof und hat Hilfe angefordert, grüsst mich mürrisch und fragt des Wegs. Ich heitere ihn auf und mich dünkt, er habe fast ein bisschen seinen Ärger vergessen. Wünscht mir alles Gute und sagt, zum Glück sei der Wagen leer, sonst hätte es längst ein riesiges Gebrüll gegeben. Es ist ein Tiertransporter.
Trotz Trödeln rückt Retiers rasch näher. Wenig Möglichkeiten mehr für Umwege, die ganze Landschaft ein wachsendes Getreidemeer. Eine Frau am Bach fischt, steht in der Küchenschürze am Ufer, holt sich vielleicht das Nachtessen aus dem Fluss.
Zurück in Janzé geh ich zum Coiffeur. Der hat Freude an meinem Schopf. So kahl war mein Schädel seit langem nicht mehr.
(Arche, 5. Juni 2002)