Bei den seit Freitag anhaltenden Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung Erdogan sind in der Türkei am Wochenende mehr als 1700 Menschen festgenommen worden. Seit Dienstag wurden 235 Kundgebungen in 67 Städten registriert, wie Innenminister Muammer Güler sagte.
Auch nach dem Rückzug der Polizei vom zentralen Taksim-Platz in Istanbul gab es in der Nacht zum Sonntag in mehreren türkischen Grossstädten weitere Zusammenstösse.
«Regierung, Rücktritt», skandierten mehrere tausend Menschen am Sonntagmittag in Istanbul während eines Marsches zum Taksim-Platz, wo am Vortag Zehntausende demonstriert hatten. Tausende zogen am frühen Abend auch über die nahe Istiklal-Strasse, wie Augenzeugen berichteten. Die Menschen trugen Fahnen und forderten in Sprechchören erneut den Rücktritt der islamisch-konservativen Regierung.
Die Protestwelle hatte sich an der gewaltsamen Räumung eines Protestlagers entzündet, mit dem die Zerstörung des Gezi-Parks am Rande des Taksim-Platzes zugunsten eines Bauvorhabens verhindert werden sollte. Inzwischen richtete sie sich vor allem gegen einen als immer autoritärer empfundenen Kurs von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan.
Ein Berater von Edogan liess nach Angaben der Zeitung«Hürriyet» über den Kurznachrichtendienst Twitter wissen, dass der Bürgermeister von Istanbul am Sonntag mit Vertretern der Taksim-Gezi-Park-Plattform und der Architektenkammer zu Gesprächen zusammenkommen wollte.
Nach dem Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz in Istanbul habe es am Samstagabend Zusammenstösse mit Demonstranten im Istanbuler Stadtteil Besiktas sowie in der Hauptstadt Ankara gegeben, berichteten Aktivisten. Die Polizei feuerte Tränengasgranaten ab.
Auch türkische Medien berichteten über den Polizeieinsatz. Die Demonstranten hätten einen Polizeiwagen angezündet und ein Büro Erdogans stürmen wollen.
Berichte über Tote
In Istanbul gingen Demonstranten und Beobachter davon aus, dass es angesichts der Polizeigewalt und der grossen Zahl von Rettungswagen Hunderte Verletzte gegeben hat. Amnesty International teilte mit, es gebe Berichte über 1000 Verletzte und zwei Tote. Die Behörden bestätigten zunächst weder das eine noch das andere.
Erdogan räumte am Samstag Fehler ein. Der Einsatz sei unangemessen hart gewesen. Zugleich sagte er, seine Regierung werde sich durch Strassenproteste nicht von ihrem Kurs abbringen lassen. Schliesslich rief Staatspräsident Abdullah Gül alle Seiten zur Ruhe und zum Dialog auf.
Kritik am Regierungsstil
«Hier kommen Menschen aus allen Schichten zusammen», sagte ein friedlich protestierender Architekt. «Sie demonstrieren gegen die Regierung und die Art Erdogans, wie ein König zu entscheiden.» Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) warf Erdogan diktatorisches Verhalten vor.
Der seit einem Jahrzehnt regierende Erdogan hat die Türkei tiefgreifend modernisiert, sie wirtschaftlich auf Wachstum getrimmt und das einstmals allmächtige Militär in die Kasernen verbannt. Seine Kritiker werfen ihm vor, sich mit seinen religiös-konservativen Ansichten in ihr Privatleben einzumischen.
Internationale Sorge
Auch international gab es Kritik an dem Einsatz. Die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton bedauerte den «unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt» durch die Polizei. Sie forderte in einer am Sonntag verbreiteten Erklärung alle Seiten zur Zurückhaltung auf. «Ein Dialog sollte aufgenommen werden, um eine friedliche Lösung zu finden», sagte sie.
Auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, nannte das harte Vorgehen der Polizei «völlig unangemessen».
Aus dem US-Aussenministerium in Washington hiess es: «Wir glauben, dass die Stabilität, die Sicherheit und der Wohlstand der Türkei langfristig am besten durch die Beibehaltung der Grundrechte auf freie Meinungsäusserung sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewährleistet wird».
In mehreren deutschen Städten – darunter in Hamburg und Stuttgart – kamen Tausende Demonstranten zu Solidaritätskundgebungen zusammen. Und auch in New York gingen Hunderte auf die Strasse und trugen Transparente mit Aufschriften wie «Resistanbul».