«Turist»: Eine kontrollierte Gefühlslawine

Seit «Play» gehört er zu meinen Lieblings-Schweden: Ruben Östlund. Seine Filmsprache ist das gedankliche Abenteuer. Seine Erzählungen sind wohlkalkulierte filmische Bilderstürme. Und kleine Lehrstücke des Zusammenlebens. Ruben Östlund präsentiert Mainstream: spektakuläre Berge, Schneekanonen, Lawinen-Bomben und schwarze Pisten – und er zückt sogar Messer in der Küche. Aber mit «Turist» lässt er uns immer wieder mit […]

Eine Familie macht Urlaub – mit ungewissem Ende.

Seit «Play» gehört er zu meinen Lieblings-Schweden: Ruben Östlund. Seine Filmsprache ist das gedankliche Abenteuer. Seine Erzählungen sind wohlkalkulierte filmische Bilderstürme. Und kleine Lehrstücke des Zusammenlebens.

Ruben Östlund präsentiert Mainstream: spektakuläre Berge, Schneekanonen, Lawinen-Bomben und schwarze Pisten – und er zückt sogar Messer in der Küche. Aber mit «Turist» lässt er uns immer wieder mit unseren Erwartungen in eine Lehre laufen: Wir dürfen bei den Schauspielern lange lesen lernen, was sich in ihren Figuren wie eine Naturkatastrophe ankündigt – die dann auch eintrifft, aber anderswo als erwartet. Und mit einer ganz anderen Lehre.

Östlund liest erneut – wie in «Play» – sehr detailliert, was sich zwischen Menschen abspielt. Die grossen Katastrophen zeichnen sich bei ihm in kleinen Begebenheiten ab, wie auch in wuchtigen Bildern. Im Bild ergiesst sich erst eine Schneelawine aus den Berghängen in den Kinosaal. Im Ton bläst gleich zu Beginn ein Sturm (es ist der dritte Satz aus dem Sommer von Vivaldis «Vier Jahreszeiten») durch die Kinositze. Im Badezimmer der Familie herrscht erst noch gespannte Ruhe.

Touristen in ihrem eigenen Leben

Es ist der Touristen-Alltag, aus dem Östlund ein kleines Schauspielerfest macht (selbst wenn er mit Kindern und Laien arbeitet). Eine Familie checkt in den französischen Alpen ein. Nichts deutet auf Risse im Familienverband hin – wären da nicht diese Lawine und ihre unspektakulären Folgen.

Östlund lässt sie auf die Familie zurasen und findet doch in ganz anderen, alltäglichen Kleinigkeiten das erschütternde Ausmass: Was er in «Turist» an Geschichten über eine Familie erzählt – allein dadurch, wie er sie sich im Badezimmer begegnen lässt –, dafür brauchen andere seitenlange Drehbuchdialoge. 

Das Spiel mit Erwartungen

Trennung, Betrug oder Mord? Was steht nun bevor? Wenn eine Zufallsbekannte davon schwärmt, wie schön es ist, Zufallsliebschaften zu leben, gehört das ebenso zu Östlunds Rezept alte Muster neu zu definieren: Erfüllte Beziehungswünsche sind ansteckend.

Dabei spielt Östlund gekonnt mit dem Mainstream. Wenn das Paar in den steilen französischen Alpen den Alltag zurücklassen will, erinnert das an unzählige Filme, in denen bald die Verfehlungen des Alltags über das Paar hereinbrechen werden. Von ganz tief unten kommt dann auch tatsächlich bei dem Paar langsam etwas an die Oberfläche, was sich hoch oben in den Bergen mit wuchtigen Bildern entlädt.

Unter Vivaldis Streicherkaskaden entlädt sich musikalisch, was mit naturgewaltigen Bildern unterstützt wird. Das lässt uns das Schlimmste erwarten. Aber auch hier führt uns Östlund sanft der Nase lang: Langsam finden wir Eingang in die Gefühlswelt des skifahrenden Paares mit ihren Kindern. Kündigt sich eine tragische Trennung an?

Ein Schauspielerfest – selbst für die Kinder

Auch die Kinder werden von den athmosphärischen Störungen erreicht. Der Junge zischt unvermittelt seinem Vater zu: «Ich will nicht, dass ihr euch scheidet!», lange bevor einer von den Erwachsenen das Wort überhaupt ausgesprochen hat.

Oder doch? Die Frau möchte so gern in ihrem Mann einen Helden sehen. Sie möchte aber vor allem ihre Erwartungen erfüllt sehen. Aber – sind Helden nicht eben jene, die Erwartungen nicht erfüllen? Der Mann wiederum wäre gerne in den Augen seiner Frau etwas Besonderes. Aber wie kann er das sein, wenn er ihr willfährt? Nur langsam ringen sich beide zu einer gemeinsamen Wahrheit durch – der Differenz.

Östlund lässt ein Paar um eine kleine Lüge nach der Wahrheit suchen, als würden die «Szenen einer Ehe» beginnen. Nur zieht er ganz andere Schlussfolgerungen. Komisch, überraschend, und filmisch verblüffend narrativ. Am Ende gibt er uns noch ein Gegenstück zum Nachdenken mit auf den Weg. Noch eine Katastrophe, die nicht stattfindet.

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Der Film läuft in den Kult-Kinos.

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