Um halb drei am neunzehnten August, 19. August 2002

Eine Schlange erschreckt mich beim Fotografen, und dann überwältigen mich schon ein bisschen die Gefühle, als ich die letzten Meter hinter mich bringe und in Messina eintreffe.

Die Fähre läuft in Messina ein. (Bild: Urs Buess)

Eine Schlange erschreckt mich beim Fotografen, und dann überwältigen mich schon ein bisschen die Gefühle, als ich die letzten Meter hinter mich bringe und in Messina eintreffe.

Kurz vor halb drei heute Nachmittag senkte sich die Klappe der Fähre, die Töfffahrer in der vordersten Reihe setzten die Helme auf, nervöse Italiener, spielten mit dem Gaspedal, und dann begann die Jagd nach den ersten Plätzen vor der ersten Ampel in Sizilien. Die wenigen Fussgänger und mich als einzigen Velofahrer beachtete niemand, wir haben nicht einmal bezahlt.

Habe zwei SMS geschickt, als ich sizilianischen Boden betrat, eins an Moni und eins an Rino und Moni schickte mir ein Feuerwerk mit «Juhuuu» zurück, und Rino schrieb «bravooooooo! globetrotter-gürtsch». Das hat mich riesig gefreut und das Telefon von Moni auch.

Bin durch das heisse Messina geradelt, wusste nicht wohin.

Am Morgen hatte ich in diesem Hotel in Palmi meine Sachen gepackt, wie ich es seit vier Monaten tue, den Proviant parat gelegt, die Wasserflaschen, bin durch die engen, südlichen Gassen aufwärts gekeucht, der Montag hat begonnen, hat die Leute vom gestrigen Fest des San Rocco wieder in den Alltag geschickt, und ich musste auf wohl siebenhundert Meter steigen, um die letzte Hürde nach Sizilien zu überwinden.

Dankbar

Ja, ich bin dankbar und glücklich, dass diese Reise so zu Ende geht, ohne Unfall, ohne bemerkenswerten Zwischenfall und Krankheit. Ein Sonnenbrand auf den Ohren einmal, sonst nichts, kein Schnupfen oder ähnliches, nur schmerzende Glieder und Knochen am Anfang. Dankbar. Wem muss ich danken? Hat mich sehr beschäftigt auf diesen Kilometern heute. Ja, ich habe immer wieder Kerzen in Kirchen angezündet, möchte irgendwie jemandem gegenüber dankbar sein, weiss aber nicht wem.

Der Anblick nach dieser letzten Gebirgshürde, der Anblick auf Scilla und Sizilien war überwältigend. So hoch über dem Meer. Wollte ein schönes Bild machen, bin über die Abschrankung der Strasse geklettert und in die verwilderte Böschung hineingestiegen. Kauerte mich zum Fotografieren nieder, und da schreckte mich in Geräusch: Eine schwarze, dicke Schlange zischte weg – ich habe es gesehen: sie hatte nicht runde Pupillen, sondern die schlitzförmigen  der giftigen Schlangen. Kein Zwischenfall und Unfall bis jetzt, bis zum letzten Tag. Bin sehr erschrocken.

Velo will sich abmelden

Eine lange Talfahrt auf abschüssiger Strasse an steilem Hang – ich schaute immer wieder fasziniert nach Sizilien, die weissen Punkte wurden zu Umrissen von Häusern, und da meldete sich auch mein Stahlesel, den ich nun zwölf Tage lang Italien hinab geplagt habe. Ein metallener Knacks, und das Hinterrad verbog sich. Irgend etwas war gebrochen, es schepperte und klagte auf den letzten Kilometern. Das Velo will sich stilgerecht abmelden.

Fuhr an schönen Stränden vorbei, fragte mich, ob es nicht sinnvoll wäre, ins Meer zu steigen – doch ich hatte wenig Lust. Vorwärts, vorwärts, Scilla vorbei, in Villa ein Schild «Imbarca per Sicilia». Bin ihm gefolgt, um Autos herum geschlängelt, die in einem Stau standen. Eine Kasse bei den vordersten, und der Schalterbeamte schickte mich direkt aufs Schiff, an den hinein fahrenden Wagen vorbei. Kein Mensch auf Oberdeck, hab mein Brötchen ohne Anstehen gekriegt, die besten Plätze auf den Bänken waren noch frei.

Nochmals eine Kerze

So geriet ich nach Messina, nach Sizilien. Am neunzehnten August um halb drei. Stand, sass, fuhr da, wo ich seit langem hin wollte, und nun bröselte alles in mir zusammen. Hätte einfach weinen können, fuhr am Dom vorbei, über den um diese Zeit leeren Platz, zündete nochmals eine Kerze an, betrachtete eine Pyramide von Heiligenpuppen auf dem heissen und verlassenen Platz in der Mitte der Stadt. Nun bin ich hier, von Glück keine Spur, nur Leere – was soll ich hier?

Ist endloses Glück, wenn man sich plötzlich leer und grundlos unglücklich fühlt? Das Ziel erreicht zu haben – ist das Glück? Ach, was für unsäglich dumme Gedanken im Kopf, als ich ziellos durch dieses Messina fuhr, an freundlichen Menschen vorbei, wenig Leute hier, alle sind wohl irgendwo am Strand. Fand den Bahnhof, wäre gern nach Palermo, um mit einem Schiff nach Genua zu fahren. Doch es wird nur noch einen Zug geben, der um elf Uhr nachts in Palermo ankommt. Das will ich nicht.

Miete mich in einem Hotel ein, grad beim Bahnhof, es ist das erste, das mir aufgefallen ist. Die Leute erschrecken zwar wegen meiner Aufmachung, ist mir aber egal, und ein Zimmer ist frei, die Lehrtochter an der Reception hat den Fehler gemacht, mir bereits den Schlüssel gegeben zu haben, als der Patron erscheint und mich in kurzen Hosen und grossem Rucksack sieht.

ARRIVATO

Im Zimmer verschicke ich ein Sammel-Mail an alle gespeicherten Natel-Nummern: ARRIVATO IN SICILIA. Liege in die Badewanne und lese die Rückmeldungen.

Will weg hier, gehe auf Reisebüros, Schiffe nach Genua bis Ende Monat ausgebucht, Flugzeugplätze nach Mailand noch frei, aber ich wähle den Zug. Es wäre nun doch ein arger Unsinn, in zwei Stunden dorthin zurückzufliegen, woher ich seit vier Wochen unterwegs bin.

Karten Schreiben auf dem Domplatz, das Velo unverschlossen an einem Baum. Eigentlich hätte ich es gern einem Velohändler oder sonstwem verkauft. Jürg Hagmann in Casanova hat mich aber gewarnt, dies zu tun, da ich keinen Beleg für den Kauf in Figline hatte. Man könnte mich verdächtigen es geklaut zu haben und das könne mich in Schwierigkeiten bringen.

Niemand klaut

Und da mich unterwegs die Leute, die Gastwirte in meinen Unterkünften, immer darauf hingewiesen hatten, es ins Haus zu nehmen, weil hier alles gestohlen würde, stellte ich es an eine Hauswand, setzte mich in eine Bar unweit davon mit Blick aufs Velo. Ich wollte sehen, wer der neue Besitzer sei.

Langsam trank ich ein Glas Wein. Niemand interessierte sich dafür. Die Dämmerung brach herein, und ich bestellte ein zweites Glas. Niemand klaute es. Der Hunger trieb mich in eine Pizzeria. Ich liess mir Zeit, kehrte zur Bar zurück, und das Velo stand immer noch an der Wand. Ich schrieb einen Zettel: «Dieses Velo ist von Figlini bei Arrezzo bis Sizilien gefahren. Ich brauche es nicht mehr. Du kannst es haben.» Steckte ihn in ein Couvert, drauf steht: Zu Verschenken.

Die Leute gehen am Velo vorbei. Ich bestelle ein Glas Wein und möchte nun wirklich sehen, wem das Velo künftig gehört. Niemand beachtet es. Es ist ein Haufen Metall und etwas Gummi, aber ich habe drauf geschwitzt, bin mit ihm durch Italien gefahren. Das Ding dort hat eine Geschichte und niemand interessiert sich dafür.

Alles ist relativ

Und ich sitze da, traurig und glücklich, zufrieden, ja. Es gibt Momente, die soll man leben und nicht reflektieren. Später kann man das tun. Auch wenn dann die Erinnerung einiges verfälscht. Wie hat die dicke Bar-Wirtin, die knapp Zwanzigjährige, vor drei Tagen in Celle di Borgheria vor sich hergemurmelt: Die Wahrheit ist relativ. Alles ist relativ – auch die Wahrheit. Und der Moment wohl auch. Vor allem die Gefühlsduseleien.

(Messina, 19. August 2002)

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