Bis zu 400 Fische müssen für die Umweltprüfung einer einzigen Chemikalie ihr Leben lassen. Nun zeigen Schweizer und britische Forscher: Fischzellen im Labor könnten genauso gut Auskunft über Umweltrisiken geben.
Umweltbehörden verlangen vor der Zulassung neuer Chemikalien oft Tests mit Fischembryonen, wie die Forschungsanstalt Eawag am Freitag mitteilte. Denn das Wachstum der Jungtiere reagiert sehr empfindlich auf Schadstoffe im Wasser. Die Tests verschleissen nicht nur viele Tiere – allein 2011 waren es in der EU insgesamt rund 180’000. Sie sind auch aufwändig, teuer und langwierig.
Nun haben Eawag-Forschende, zusammen mit Kollegen von den ETHs Zürich und Lausanne sowie der Universität York (GB), die Tests anhand von Kulturen von Kiemenzellen gemacht statt mit lebenden Fischen. Sie massen, wie schnell sich die Zellen vervielfachten und rechneten dies mit einem Computermodell auf den ganzen Fisch hoch.
Gute Übereinstimmung mit Tierversuchen
Nach nur fünf Tagen zeigten die je nach Chemikalienbelastung schneller oder langsamer angestiegenen Zellzahlen laut den Forschern eine «verblüffend gute Übereinstimmung» zu den unabhängig durchgeführten Versuchen mit Fischen. Die Resultate wurden im Fachjournal «Science Advances» veröffentlicht.
«Es ist das erste Mal, dass wir von Zellkulturen sehr treffsicher auf Effekte an Tieren schliessen konnten, die bei diesen erst nach Wochen oder gar Monaten sichtbar werden», liess sich Kristin Schirmer zitieren, die an der Eawag die Forschung zum Ersatz von Tierversuchen leitet.
Das Übertragen der Resultate auf das Individuum klappe deshalb so gut, weil grössere Fische nicht aus grösseren, sondern lediglich aus mehr Zellen bestehen, und weil sie die Konzentration der Chemikalie in den Zellen berechnet hätten, sagte die Umwelttoxikologin.
Das Modell sagt voraus, was passiert, wenn der Fisch die getestete Chemikalie im Wasser antrifft. Es stelle somit den gängigen Ansatz «erst testen, dann interpretieren» auf den Kopf, fügte Roman Ashauer von der Universität York hinzu. Sie hingegen würden zunächst ein mathematisches Modell für eine bestimmte Fragestellung erstellen, und dann die experimentellen Daten aus den Zellversuchen einfügen.
Damit liessen sich laut Schirmer auch andere Tests und Vorhersagemodelle verbessern. Allerdings müssen die Eigenschaften der Substanzen gut bekannt sein, und ob alle Zellen genau wie Kiemenzellen reagieren, ist auch noch nicht bekannt. Die Autoren hoffen nun, dass andere Forscher ihren Ansatz weiter testen.
100 Millionen Chemikalien
Soeben wurde beim «Chemical Abstracts Service» die weltweit 100 Millionste Chemikalie registriert, schreiben die Forschenden. Täglich kommen gegen 15’000 neue Substanzen dazu. Für die wenigsten davon existieren verbindliche Regulierungen, für noch weniger wurden Sicherheits- und Umwelttests durchgeführt.
Jährlich durchlaufen nur rund zehn neue Substanzen, die in grossen Mengen produziert werden, ein seriöses Testverfahren. Allein um die Chemikalien-Zulassungsrichtlinie REACH der EU zu erfüllen, müssten eigentlich 300 mal mehr Stoffe getestet werden. Es hat zum Ziel, eine Balance zwischen dem Nutzen für Mensch und Wirtschaft und dem Risiko für die Ökosysteme zu finden.