Mit seinem Sieg gegen Roger Federer am French Open hat Stan Warinka ein neues Kapitel Schweizer Tennisgeschichte geschrieben.
Paris. Am Ende wirkte es, als würde er ganz allein auf dem Court Suzanne Lenglen stehen. Nicht nur gegen Roger Federer, sondern gefühlt auch gegen ein ganzes Stadion voller Federer-Bewunderer.
Doch nichts und niemand konnte Stanislas Wawrinka an diesem windigen Dienstag in Paris erschüttern, einen Mann, der auf der Höhe seiner Kunst eines der besten Spiele seines Lebens zeigte und damit wie nie zuvor die Hackordnung im Schweizer Tennis durcheinanderwirbelte: «Nie habe ich ein besseres Grand Slam-Match auf Sand gezeigt», sagte der 30-Jährige, der erstmals einen wirklich bedeutenden, durchschlagenden Sieg gegen sein Idol, seinen Freund Federer landete.
Brillanz, Entschlossenheit und Power
Von der ersten bis zur letzten Minute des historischen 6:4, 6:3, 7:6 (7:4)-Triumphzuges war es eine Vorstellung voller Brillanz, Entschlossenheit und Power, eine Galavorstellung, bei der Wawrinka auch jederzeit seine Nerven im Zaum hielt. Selbst als die eigensinnigen, unberechenbaren Pariser Tennisfreunde ihn auf der Zielgeraden ausbuhten und Federer zum Comeback schreien wollten.
«Unglaublich» sei der Sieg, «unwirklich» auch, sagte Wawrinka: «Es war grossartig da draussen, aber es ist halt auch so, dass ich einen Freund geschlagen habe.» Nächste schwere Aufgabe für «Stan, the Man» ist nun das erste Pariser Halbfinalduell, gleich gegen einen Lokalmatador, nämlich Jo-Wilfried Tsonga – der Tennis-Ali hatte in einem Marathonmatch den Japaner Kei Nishikori mit 6:1, 6:4, 4:6, 3:6 und 6:3 bezwungen. Auf viel Unterstützung darf Wawrinka auch da nicht hoffen.
Federer hatte im Vorfeld der Partie gesagt, Wawrinka habe es gefühlsmässig wohl gegen keinen Gegner so schwer wie gegen ihn selbst – das Vorbild, den Ratgeber, den Hilfesteller. Doch an diesem denkwürdigen 2. Juni 2015 hatte der Vaudois keine Beisshemmung, keine mentale Blockade, keine Versagensängste gegen den 17-maligen Grand Slam-Champion. Nur zwei Mal hatte er bisher gegen Federer in 18 Vergleichen gewonnen, aber es war eben bloss die kleinere Masters-Bühne in Monte Carlo, auf der das passierte.
Hier aber war Paris, das grösste Sandplatz-Turnier der Welt, einer der vier Schauplätze, die den Wert und Rang der Tennis-Professionals definieren, und hier tatsächlich gelang es, den Fluch der ewigen Niederlagen gegen den Maestro zu überwinden. «Imponierend, wie Stan das durchgespielt hat. Ohne Bruch in seinem Auftritt, ohne jedes Flattern», stellte da Eurosport-Kommentator John McEnroe fest, «in der Form wird er auch ein Wörtchen bei der Titelvergabe mitsprechen.»
Federer ohne Break
Auch eine statistische Erhebung nach dem letzten Ballwechsel sprach Bände: Denn zum ersten Mal seit den US Open 2002 hatte Federer in einem Grand Slam-Match kein einziges Break geschafft, Folge eines Trommelwirbels von Topaufschlägen, die Wawrinka in den Sand setzte. «Es war wirklich, wirklich gutes Tennis von Stan», befand Federer später, «mich überrascht es nicht. Ich weiss, welches Potenzial er hat.»
Einen einzigen spärlichen Satz hatte Wawrinka bisher in allen Grand Slam-Partien gegen Federer geholt, nie gewonnen – und daher wunderte nicht, dass der heimische Boulevard schon von einem «Federer-Komplex» bei ihm, dem langjährigen Schattenmann des Superstars, sprach. Doch dass diese angestammten Machtverhältnisse in diesem Viertelfinalduell erschüttert werden könnten, deutete sich schon auf den allerersten Metern an. Wawrinka spielte mit gewaltiger Schlagwucht, jagte Federer zwischen den Ecken umher, servierte mit aller Pracht und Herrlichkeit.
Es schien, als habe Federer überhaupt keine Luft zum Atmen auf dem Court, als wäre er ständig in der Defensive und auf dem Rückzug. Nur mit Mühe konnte er überhaupt Anschluss halten, aber trotzdem gingen alle wesentlichen Punkte an Wawrinka, der nach zwei Sätzen überlegen mit 6:4 und 6:3 führte. «Stan hat über weite Strecken das perfekte Spiel gezeigt», sagte Trainer Magnus Norman hinterher, «es war eine grosse Show.»
Federers Aufbäumen zum Schluss
Erst im dritten Satz begegneten sich die beiden Davis Cup-Helden der Schweiz auf Augenhöhe, zuzuschreiben war das Federers verzweifelten und erfolgreicheren Anstrengungen, noch einmal mit aller Macht eine Wende zu inszenieren. Angetrieben auch durch die Fan-Unterstützung, erzwang Federer eine Tiebreak-Lotterie. Und hatte dann Pech bei einer umstrittenen Entscheidung des unsouveränen Referees Kader Nouni, der bei einem Wawrinka-Schlag den Aus-Ruf eines Linienrichters korrekt überstimmte, aber auch gleich dem 30-Jährigen den Punkt zusprach.
Keine Wiederholung des Ballwechsels – da schüttelte Federer nur entgeistert den Kopf. Dass er sich nicht energischer wehrte, sprach allerdings auch Bände. Wenig später, nach Wawrinkas 7:4 in diesem Glücksspiel, war dann alles vorbei. Und ein neues Kapitel Schweizer Tennisgeschichte geschrieben, mit Wawrinkas erstem Exploit gegen den einst überlebensgrossen Mitstreiter und Weggefährten.