«Unterforderung ist schwer zu ertragen»

Letizia Gauck, Expertin für Hochbegabungen an der Uni Basel, über IQ-Tests, Frühchinesisch im Kindergarten – und warum bei der Förderung nicht die Leistung zählt, sondern die Persönlichkeit.

«Wenn jemand die gesellschaftlichen Erwartungen in extremem Ausmass übertrifft, kann das Unverständnis auslösen»: Entwicklungs­psychologin Letizia Gauck. (Bild: Basile Bornand)

Letizia Gauck, Expertin für Hochbegabungen an der Uni Basel, über IQ-Tests, Frühchinesisch im Kindergarten – und warum bei der Förderung nicht die Leistung zählt, sondern die Persönlichkeit.

Viele Eltern wünschen sich ein Superhirn. Und entdecken in jeder Regung ihres Sprösslings Zeichen für Einstein’schen Scharfsinn. In einer Studie in den USA hielten 95 Prozent der Eltern ihr Kind für überdurchschnittlich begabt – nur jeder Zwanzigste zeichnete ein realistisches Bild. Besonders Lehrer und Schulbehörden können ein Lied davon singen: Spätestens wenn beim Übertritt die ­Weichen für die berufliche Zukunft gestellt werden, steigt die Quote an verkannten Genies rapide an.

Was aber, wenn das Kind wirklich ein Kandidat für den berühmten ­Mensa-Club ist? Die wenigsten sind sich der Fallstricke bewusst, die eine Hochbegabung mit sich bringt. Während das integrative Schulmodell viel für lernschwache Schüler tut (Harmos, Sonderpädagogik-Konkordat), bleiben Schnelldenker (zu) oft unerkannt respektive sich selbst über­lassen. Bis sie ihrerseits Probleme machen: Dauerhafte Unterforderung führt zu Langweile, Isolation, Frustration und im schlimmsten Fall zur Leistungsverweigerung.
Neben dem schulpsychologischen Dienst bietet auch das Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeits­diagnostik (ZEPD) der Universität Basel Abklärungen, Beratung und Therapien an, um (nicht nur) Hochbegabten zu einer optimalen Entfaltung ihrer Möglichkeiten zu verhelfen.

Frau Gauck, wie viel Intelligenz liegt in den Genen, welchen Einfluss hat die Sozialisierung?

Die genetischen Grundlagen spielen eine grosse Rolle. Doch hohe Intelligenz ist kein Erfolgsgarant. Wenn das Talent nicht gefördert wird, kann es sich nicht entfalten. Um das Potenzial abzurufen, braucht es entsprechende Trainings- oder Lernprozesse. Dabei spielen das Umfeld und die persönliche Motivation eine entscheidende Rolle. Wir definieren Hochbegabung also nicht als Leistung, sondern als Potenzial. Was nicht heisst, dass es nicht auch Fleiss und Disziplin braucht.

Lässt sich mit Fleiss und Disziplin fehlendes Talent wettmachen?

Nur bedingt. Nehmen Sie zum Beispiel Mozart: Er hatte ein hohes ­Potenzial, zugleich schon mit sechs Jahren enorm viele Übungsstunden in den Fingern – das Umfeld hatte also die Voraussetzungen geschaffen, dass sich sein Talent entfalten konnte. Ob eine solche Leistung ­allein durch Fleiss zu erreichen ist, möchte ich bezweifeln. Wer die Voraussetzungen nicht mitbringt, wird unverhältnismässig viel Aufwand betreiben müssen, um auf ein Level zu kommen, das ein Genie spielend leicht erreicht.

«Etwa jede dritte oder vierte Person, die abgeklärt wird, ist tatsächlich hochbegabt.»

Erfolgsautorinnen wie Amy Chua predigen eiserne Disziplin von der Krippe weg.

Ich bin skeptisch gegenüber extremen Fördermassnahmen à la Frühchinesisch im Kindergarten. Kinder in diesem Alter lernen im Spiel. Wir wissen aus der Neuroforschung, dass wir besser lernen, wenn positive Emotionen beteiligt sind, wenn wir also aus Freude und Interesse lernen. Chinesisch werden hier in der Schweiz nur die wenigsten Kinder aus eigenem Antrieb lernen wollen.

Sind Wunderkinder das Produkt ehrgeiziger Eltern?

Damit hohe Begabung in hohe Leistung umgesetzt werden kann, müssen alle Faktoren stimmen. Es gibt Kinder, die ein gewisser Druck beflügelt. Andere tun sich schwer mit hohen Erwartungen. Selbstverständlich sollten Eltern einem Kind über ein Motivationsloch hinweghelfen. Doch es soll mit Freude bei der Sache sein.

Diese Faktoren positiv zu beeinflussen, ist Aufgabe Ihres Instituts. Wie viele Kinder werden bei Ihnen pro Jahr abgeklärt?

Im Jahr 2012 waren etwa 130 Personen respektive Familien bei uns.

Und wie viele erhalten das Prädikat «hochbegabt»?

Etwa jede dritte oder vierte Person, die wegen einer vermuteten Hoch­begabung abgeklärt wird, ist tatsächlich intellektuell hochbegabt. Den anderen erklären wir, dass es viele Begabungen gibt – körperliche, musikalische, sprachliche. Dazu kommen Faktoren wie Kreativität, Motivation oder Sozialverhalten. Wenn ein Kind nicht durchgehend top ist, heisst das ja keineswegs, dass es nicht aufs Gymnasium kann – es wird einfach mehr investieren müssen.

Haben nicht gerade Hochbegabte in der Schule mehr Probleme?

Nein, das ist ein Mythos. Hochbegabte kommen im Allgemeinen gut in der Schule klar, denn sie können sich gut anpassen. Es gibt aber Kinder, die mit der Unterforderung nicht umgehen können.

Weshalb?

Erstens führt das Fehlen von Herausforderungen zu mangelndem Selbstvertrauen, da es keine stolzerfüllten Erfolgsmomente nach gemeisterten Schwierigkeiten gibt. Zweitens können diese Kinder keine Strategien im Umgang mit schwierigen Aufgaben erwerben. Das zeigt sich oft beim Wechsel in die Oberstufe. Da reicht ein tolles Gedächtnis nicht mehr aus. Da braucht es Lernstrategien und die Kompetenz, den Stoff zu organisieren. Wenn es dann nicht auf Anhieb klappt, kommen Selbstzweifel auf, was wiederum zu negativen Rückmeldungen führt. So kommt es zu einer Abwärtsspirale, die bis zum Schulversagen führen kann.

«Man schätzt, dass etwa 15 Prozent aller Schülerinnen und Schüler nicht das leisten, was sie leisten könnten.»

Sind Hochbegabte denn anders gestrickt als durchschnittlich Begabte?

Nein, hinsichtlich der Persönlichkeit gibt es kaum Unterschiede. Allerdings konnten wir zeigen, dass bei den Hochbegabten die schulische Situation, die passende Lernumgebung, einen viel grösseren Einfluss auf die Befindlichkeit hat. Je schlechter sie sich in der Schule aufgehoben fühlen, umso stärker ausgeprägt ist eine Verhaltensauffälligkeit.

Wie hoch ist dieser Anteil hochbegabter «Problemkinder»?

Man schätzt, dass etwa 15 Prozent aller hoch-, aber auch aller durchschnittlich begabten Schülerinnen und Schüler nicht das leisten, was sie leisten könnten. Natürlich gibt es auch andere Gründe für Minderleistung wie Probleme in der Familie. Doch gravierende Unterforderung ist auf Dauer ein Risikofaktor für die Entwicklung.

Gehen Mädchen und Jungen unterschiedlich damit um?

Ja, solche Geschlechterunterschiede gibt es. Buben neigen eher dazu, auffällig zu werden – sie stören den ­Unterricht, sind die Klassenclowns oder werden aggressiv. Mädchen ­leiden dagegen eher still und ziehen sich zurück, was es für das Umfeld schwieriger macht, das Problem zu erkennen. Da Buben viel öfter ab­geklärt werden, werden auch mehr Buben als hochbegabt erkannt und profitieren von Begabtenfördermassnahmen. Auf der anderen Seite ist unser Schulsystem aber insgesamt eher auf die Bedürfnisse der Mädchen zugeschnitten.

«In der Schweiz misstraut man allem, was über dem Durchschnitt liegt», hat Beatrice ­Giovannoni vom Verein Förderung begabter Kinder gesagt. Stimmt das?

Ein gewisses Mass an Exzellenz wird akzeptiert. Wenn aber jemand die gesellschaftlichen Erwartungen in extremem Ausmass übertrifft, kann das Neid und Unverständnis auslösen. Umgekehrt ist aber auch extreme Unterforderung auf Dauer schwer zu ertragen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Deutschkurs für Japaner besuchen, jeden Tag, viele Jahre lang – eine ähnliche Anpassungsleistung wird von Hochbegabten erwartet.

Sollte es bei der Einschulung flächendeckend IQ-Tests geben, wie es in den USA bereits betrieben wird?

Eine solche Untersuchung kann ­tatsächlich hilfreich sein, aber sie beinhaltet auch Risiken. Viele gehen von der falschen Annahme aus, dass jemand, der im Test als hochbegabt eingestuft wird, es das Leben lang bleiben wird. Oder dass Hochbegabung vor Schwierigkeiten wie zum Beispiel AD(H)S, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine soziale Auffälligkeit geschützt sind. Hochbegabte Kinder können solche Schwierigkeiten oft kompensieren, sodass sie lange unentdeckt bleiben. Sowohl die Familien wie die Lehrpersonen müssen also mit den Resultaten von IQ-Tests umgehen können.

Wie aussagekräftig sind IQ-Tests generell?

Das hängt vom Alter des Kindes ab. Nicht nur die kognitiven Fähigkeiten entwickeln sich, auch Faktoren wie Aufmerksamkeit oder Arbeitsverhalten. Im frühkindlichen Alter ist die Entwicklung all dieser Fähigkeiten noch derart im Fluss, dass Intelligenztests nur begrenzt aussagefähig sind. Erst ab einem Alter von sechs Jahren werden die Tests aussagekräftiger, mit etwa zehn Jahren sind die Werte stabil.

«Im Moment sieht es danach aus, dass wir uns nicht weiter in den Intelligenztestleistungen steigern.»

Die Tests mussten bis etwa 1990 laufend schwieriger gemacht werden, damit wie festgelegt nur zwei Prozent der Bevölkerung als hochbegabt eingestuft werden. Warum?

Es gibt verschiedene Erklärungs­versuche für diesen sogenannten Flynn-Effekt. Bessere Ernährung ist eine davon, auch eine steigende Kompetenz im Umgang mit Informationen. Eine allgemein anerkannte Theorie gibt es aber nicht.

Wird die Menschheit also nicht immer klüger?

Genetisch lässt sich die Steigerung in Intelligenztestleistungen in den letzten 20 Jahren jedenfalls nicht erklären, dafür braucht es ganz andere zeitliche Dimensionen. Wenn wir vom sozialen Umfeld sprechen, ist eine Schwierigkeit die Kulturabhängigkeit von Intelligenz. In westlichen Gesellschaften sind Individualität und damit auch das Denkvermögen Einzelner hoch bewertet; in anderen Kulturen spielt der soziale Zusammenhalt eine grössere Rolle. Bei afro-amerikanischen Jugendgruppen zum Beispiel wird der Erfolg im Schulsystem sogar negativ bewertet. Entsprechend müssen wir vorsichtig sein, wenn wir mit unseren Intelligenztests Menschen aus anderen Kulturkreisen bewerten.

Zuletzt zeichnete sich eine Trendwende ab – der IQ sinkt wieder. Sind das die Vorboten der «digitalen Demenz»?

Nein, so kann man das nicht sagen. Aber im Moment sieht es tatsächlich danach aus, dass wir uns nicht weiter in den Intelligenztestleistungen steigern. Aber noch fehlen weitere Untersuchungen, um gesicherte ­Aussagen machen zu können.

Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien bei der Begabtenförderung untervertreten sind. Warum?

Der Intellekt ist sicher nicht schwächer ausgebildet, doch das Umfeld erlaubt nicht, das Potenzial zu entfalten. Dass Kinder aus einkommensschwachen Familien oder mit Migrationshintergrund weniger von Fördermassnahmen profitieren, ist ein Problem.

Kommen die Hochbegabten in der integrativen Schule, wie sie im Zuge von Harmos nun umgesetzt wird, nicht generell unter die Räder?

Es gibt tatsächlich Kinder mit hohen Begabungen, bei denen Lehrpersonen an ihre Grenze kommen, häufig aufgrund hoher Arbeitsbelastung bei relativ grossen Klassen mit mehreren Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Langfristig wird sich der integrative Ansatz positiv auswirken. Denn vermehrte Integration bedeutet, dass die Lehrpersonen die unterschiedlichen Bedürfnisse wahrnehmen und diesen gerecht werden. Wichtig ist darum auch, dass den Lehrpersonen in ihrer Ausbildung die nötigen Kompetenzen vermittelt werden und dass Schulen die entsprechenden Ressourcen erhalten. Man kann nicht immer nur höhere Ansprüche stellen. Besonders begabte Kinder sind vielleicht im Moment aufgrund der Umstellung weniger auf dem Radar, da andere Probleme dringlicher erscheinen.

Hochbegabung ist also ein Luxusproblem, um das man sich kümmert, wenn alles andere rund läuft?

Ich würde bei Hochbegabungen nicht von einem Problem reden. Nur wenn die Passung nicht stimmt, kann es zu Problemen kommen. Hier Lösungen aufzuzeigen ist Teil unserer Aufgabe und jener des schulpsychologischen Diensts. Oft lässt sich die Situation mit wenig Aufwand verbessern, etwa durch spezielle Lehrmittel. Der Lehrplan 21, der jetzt eingeführt wird, orientiert sich an den Kompetenzen. Die Lernziele werden den unterschiedlichen ­Niveaus der Kinder angepasst. Das spiegelt sich auch in den neuen Lehrmitteln. Insofern werden Lehrpersonen in Zukunft mehr Hilfsmittel an der Hand haben, den unterschiedlichen Bedürfnissen zu begegnen.

«Das Ziel von Förderung ist für mich die Persönlichkeitsentwicklung, nicht in erster ­Linie eine Leistungssteigerung.»

Wann stösst die integrative ­Regelschule an Grenzen?

Ich denke zum Beispiel an einen Jugendlichen, der drei Mal eine Klasse übersprungen hat. Dieser Jugendliche braucht eine derart individuelle Förderung in einer kleinen Gruppe, wie es eine Regelschule meist nicht anbieten kann. Wenn Überspringen ins Auge gefasst wird, muss der Schritt vom Umfeld, insbesondere von den Lehrpersonen, begleitet und mitgetragen werden. Das Gleiche gilt fürs Pull-out, also die Hochbegabtenförderung in eigenen, klassenübergreifenden Gruppen.

Diese gibt es auch in Basel. Es erstaunt, wie wenig leistungs­orientiert dort gearbeitet wird: Die Kinder sind völlig frei, im ­eigenen Tempo eigene Themen zu bearbeiten.

Ein Ziel ist auch hier die Persönlichkeitsförderung, nicht nur die Leistungsentwicklung. Um selbstständig an einem Projekt zu arbeiten, braucht es Kompetenzen, die nichts mit Intelligenz zu tun haben – wie organisiere ich mich, wie gehe ich vor. Fähigkeiten also, die dem Kind auch im Regelunterricht ein selbstständiges Arbeiten ermöglichen. So kann die Lehrperson das Kind zum Beispiel an eigenen Projekten arbeiten lassen, wenn Stoff behandelt wird, den es schon gut beherrscht. Ein zweiter Pluspunkt in diesen Kleingruppen ist für die hochbegabten Kinder die Erfahrung, mit ihresgleichen zusammen zu sein. Sie sind vielleicht zum ersten Mal mit der ­Situation konfrontiert, dass ein ­anderes Kind schneller ist oder die eigenen Argumente kontert.

Hochbegabte Kinder sind oft vielseitig begabt und interessiert. Wie können Eltern und Lehrer wissen, wo Förderung gut und sinnvoll ist?

Der Schlüsselbegriff heisst hier ­«Response to intervention». Geht ein Kind zum ersten Mal in eine Bibliothek, wird es Bücher zu verschiedenen Themen ausleihen. Beim zweiten Mal möchte es vielleicht eines vertiefen. Durch sorgfältige Beobachtung und entsprechende Angebote lässt sich gut herausfinden, wo das Interesse gesättigt ist und wo es Bestand hat. Manche Kinder werden zu wahren Experten in einem bestimmten Thema, andere bleiben über lange Zeit breit interessiert.

Warum sollen wir uns überhaupt derart selbst optimieren?

Wenn wir verwirklichen können, was in uns steckt, macht uns das zufrieden. Das Ziel von Förderung ist für mich deshalb die Persönlichkeitsentwicklung, nicht in erster ­Linie eine Leistungssteigerung. Können wir unsere Talente entfalten und erhalten wir dafür Anerkennung, ­erfüllt uns das mit Glück.

Letizia Gauck
Seit 2013 leitet Letizia Gauck das Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitsdiagnostik der Uni Basel. Die Expertin für Hochbegabungen und Verhaltenstherapeutin befasst sich mit der Potenzialentwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer Dissertation an der Uni Konstanz (2006) untersuchte sie, ob hochbegabte Kinder sich in ihren Verhaltensauffälligkeiten von durchschnittlich begabten Kindern unterscheiden. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Unterscheidung von hoher Begabung und Symptomen von ADHS oder Asperger-Syndrom. Parallel zu ihrer Doktorarbeit absolvierte sie eine Weiterbildung zur Verhaltenstherapeutin. Gauck sammelte fast 15 Jahre Beratungserfahrung, zunächst an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Uni München, als Dozentin an der Fachhochschule Nordwestschweiz sowie während vier Jahren in ihrer ­eigenen Praxis in Basel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 17.01.14

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