Vorbei sind die Zeiten, als der typische Nationalrat auch noch Unternehmer und Oberst im Militär war. Immer mehr Ratsmitglieder machen die Politik zu ihrem Beruf. Eine Rangliste von Politnetz über die Abwesenheit der Ratsmitglieder beleuchtet das Dilemma des Schweizer Milizsystems.
Die Internetplattform Politnetz hat erstmals alle 1448 Abstimmungen seit Legislaturbeginn im Winter 2011 ausgewertet und eine Rangliste der Nationalrätinnen und Nationalräte erstellt. Berücksichtigt wurden dabei alle offiziellen Abstimmungsprotokolle.
Wirtschaftsführer fehlen
Die Rangliste widerspiegle die Tendenz, wonach generell Nationalräte aus bürgerlichen Kreisen am meisten fehlten, sagte Thomas Bigliel, Geschäftsführer von Politnetz, der Nachrichtenagentur sda. „Dies gilt besonders für Firmeninhaber, Wirtschaftsführer und Politiker mit Doppelmandat.“
Den ersten Rang belegt denn auch der Thurgauer SVP-Nationalrat Peter Spuhler, der fast bei der Hälfte der Abstimmungen (44 Prozent) gefehlt hat. Der Industrielle, der neben seiner Stadler Rail zahlreiche Mandate in Verwaltungsräten und Verbänden innehat, zog inzwischen die Konsequenzen: Nach 13 Jahren im Nationalrat ist er auf Ende der Wintersession zurückgetreten.
Ähnlich rar macht sich sein Zürcher Parteikollege Christoph Blocher, dessen Absenzquote bei Abstimmungen 38 Prozent beträgt. Blocher hatte die Leitung seiner Ems Chemie nach der Wahl in den Bundesrat 2003 abgegeben. Heute ist er SVP-Vizepräsident und Präsident der Finanzierungsgesellschaften Robinvest.
Jeder dritten Abstimmung ist Hans Grunder (BE) ferngeblieben. Der BDP-Gründungspräsident ist Inhaber eines international tätigen Ingenieurbüros und betreibt eine eigene Pferdezucht.
Auf den vorderen Plätzen finden sich zudem Nationalräte wie der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät und GLP-Präsident Martin Bäumle. Als erste Frau taucht in der Rangliste Ursula Wyss auf Platz 11 auf. Die frühere SP-Fraktionspräsidenten hatte im September 2011 ihr zweites Kind geboren und kandidierte in diesem Jahr für die Berner Stadtregierung.
Ausreisser trüben gute Bilanz
Diese Beispiele trüben laut Bigliel die insgesamt gute Bilanz der grossen Kammer in dieser Legislaturperiode. „Die Abwesenheitsliste wird durch ein paar Ausreisser stark beeinflusst.“ Die Schwankungen seien beträchtlich. Durchschnittlich bleiben 10 Prozent der Nationalräte Abstimmungen fern. Die Bandbreite reicht aber von 0 bis 44 Prozent.
Ähnlich sieht es der Politikwissenschaftler Michael Hermann. Der „schwänzende“ Nationalrat sei eine Mär, schreibt Hermann in seinem Blog. „Seit den Neunzigerjahren ist der Abstimmungsschlendrian aus der grossen Kammer gewichen.“
Gemäss seinen Berechnungen ist die durchschnittliche Absenz der Parlamentarier seit der Legislatur 1995 von 27 Prozent auf heute 12 Prozent gesunken. Hermanns Befund: „Nationalräte sind heute in Tat und Wahrheit in ihrer grossen Mehrzahl ausgesprochen fleissig.“