Das Tal hinter den Bergen von Lecco, das nach Bergamo führt, ist wild, kaum begangen und eindrucksvoll leer. Ausser Bikern bewegt sich hier niemand, sogar Kühe mögen nicht mehr hier weiden.
Lecco erwacht, einige Bars sind bereits offen, die meisten aber noch mit runtergezogenen Jalousien. Die Läden sowieso, denn es ist Montag. Und auf einer dieser Piazze hat es ein wunderbares Morgenkaffee, der Wirt tut sehr geschäftig, hat die Tische bereits gedeckt, bringt mir Cappuccino und Dolce.
Da heult eine Sirene auf, nebenan auf dem Dach einer Bank. Die Polizei ist schnell da – einer auf einem Töff und fünf weitere in zwei Fiats. Zu sechst beginnen sie umgehend, das Problem zu erörtern, und irgendwie ist sofort klar, dass es sich um einen Fehlalarm handeln muss. Wichtig, aber gelangweilt schauen die Carabinieri aufs Dach hinauf, reden in Funkgeräte oder stehen mit verschränkten Armen sehr überlegen herum. Einer hängt geschäftig im Auto.
Verwundert halten die Vorbeigehenden an, einige wenige zuerst, die meisten ahnen sofort, dass es sich da um einen Fehlalarm handelt. Sie sagen meist: Che musica! Sie geben Ratschläge, wie man diese Sirene abstellen könnte. Aber sie steht halt schon sehr weit oben auf dem Dach. Zudem ist Montag, und aufgestanden ist ohnehin niemand gern, weder die Polizisten noch die Passanten. Das Spektakel kommt gelegen. Die Woche beginnt recht interessant. Anne schläft noch.
Seilbahn ohne Masten
Ich schlendere durchs Städtchen, schreibe Karten und treffe Anne dann in der Hotelbar. Wir fragen uns zum Stadtteil durch, der uns an die Talstation der Gondel führt, die ich gestern Abend gesehen habe. Es ist eine ziemlich abenteuerliche Gondel. Eine steile nackte Seilbahn ohne Masten zwischen Tal- und Bergstation – sie geht los oberhalb von Lecco und weit oben, wo die Felsenaufführen, steigt man dann aus. Fast etwas unheimlich, wie man da inder Luft hängt. Wenn das Seil reissen würde, gäbe es einen kurzen zischenden Knall gäbe, das Seil schwirrte durch die Luft, die Gondel wirbelte zu Boden, im «Eco die Lecco» würde die Frontseite vollgeschrieben. Im Tagi eine Meldung auf der Letzten Seite. Anne findet das nicht witzig und sagt, sie würde mir jetzt eine knallen, wenn da nicht andere Leute in der Gondel stünden.
Oben, auf den Piani d´Erna stehen wir in einer anderen Welt. In einer Alpenwelt – es könnte irgendwo in der Innerschweiz sein oder sonstwo in den Bergen. Die Häuser unten in der Ebene wie hingeworfene Klötzchen. Oben trutzige Steingebäude, sie wirken etwas unwirtlich. Was es aber in der Innerschweiz nicht gibt: Steintafeln überall, die an Partisanen erinnern, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hier oben versteckt haben, ihre Überfälle planten, sich dem Faschismus widersetzt haben und sich heute als Helden feiern. Sie müssen hier herumgekraxelt sein, ihre paar Gewehre und Maschinengewehre versteckt haben – eine gute Welt, um sich vor fremden Deutschen zu verstecken.
Der Weg des Hirten
Es geht zünftig bergan zum Passo di Giovo – Pass da Güff, wie es offenbar im Dialekt heisst. Ein schmaler, steiniger Pfad geht hoch, zwei Biker überholen uns, fahren munter vorbei, müssen dann absteigen, ihr Velo neben sich herstossen. Der Pass ist sehr stark bewaldet, keine Sicht, und wir steigen hinunter, durch dichten Laubwald, der Costa del Pallio zu. Eine Hügelkette, die sich wie ein Riegel quer durchs Tal legt, das von Bergamo heraufführt. Baumlose Hügel mit Alphütten, einige wenige Kühe grasen, die Biker haben irgendwo Halt gemacht, überholen uns wieder, machen eine Bier-Pause, überholen uns noch einmal, wir plaudern, sie zeigen uns den Weg ins Tal, drei Hirten zeigen ihn uns auch, aber in einer anderen Richtung und wir folgen, von immer dichteren Schwärmen kleiner Fliegen verfolgt, jenem der Hirten.
Steil hinunter, durch einen Wald – und wenn sich die Sicht mal auftut, dann öffnet sich der Blick in den Talkessel, der nach Bergamo führen wird, recht dicht besiedelt. Überall Dörfer, nicht sehr kompakt, zerstreut liegen die Weiler in der Landschaft.
Ein kleiner Halt und schwere Tropfen plötzlich. In sehr kurzer Zeit zieht das Gewitter heran, überrascht uns und wir flüchten unter das Dach eines Ferienhauses. Sitzen dort, rauchen, essen Schinken und Käse, plaudern. Es ist dieser Moment, von dem man manchmal träumt: eine Wanderung, ein Gewitter, ein Hütte, die Schutz bietet.
Im ersten Dorf, Fuipiano, spricht uns eine Frau an. Wohin, woher? Wir berichten und sie drängt uns, doch ins Hotel zu gehen. Etwas aufdringlich, und wir schlagen uns zur Bar durch, wo die Aussicht dramatisch schön ist. Das Gewitter hat die Luft rein geputzt, wir sehen weit in die Po-Ebene hinein. Anne ist seltsam berührt von dieser Landschaft, von dieser Gegend, denn sie stammt von hier, hat ihre Verwandten in Bergamo, allerdings in der Ebene von Bergamo und ist noch nie von dieser Seite her in die Stadt gekommen.
Das Zimmer im Hotel Canella ist recht ordentlich, die Leute überaus freundlich, gesprächig – ertragen mit Gelassenheit ihr Schicksal, das sie in italienischer Übertreibung als sehr langweilig schildern, bedauern, dass es kaum mehr Kühe gibt, nur noch dreihundert, früher waren es dreitausend. Den Passo di Giovo, wo wir hergekommen sind, kennen sie nicht. Dort gehen sie nicht hin, zu Fuss schon gar nicht, das machen nur Deutsche.
(Fuipiano, 29. Juli 2002)