Noch ist offen, ob Roy Hodgson im heutigen letzten Gruppenspiel der Engländer Jamie Vardy erstmals von Beginn das Vertrauen schenkt. Argumente dafür hat der Goalgetter von Leicester City geliefert.
135 Minuten lang behielt ihn Roy Hodgson an der Leine. Kaum losgelassen, leitete er die Wende ein: Jamie Vardy setzt seinen Lauf auch im Nationalteam fort. Beim 2:1-Sieg der «Three Lions» gegen Wales traf er elf Minuten nach seiner Einwechslung zum Ausgleich. Sein fünfter Schuss im englischen Trikot in diesem Jahr bedeutete sein vierter Treffer.
Gemäss dem «Guardian» könnte Roy Hodgson am Montag im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei trotzdem nicht von Beginn weg auf Englands «working class hero» setzen. Der Nationalcoach, so vermutet die britische Presse, wird Harry Kane durch Liverpools Daniel Sturridge austauschen, der gegen Wales in der Nachspielzeit das 2:1 besorgt hatte. Vardy dagegen könnte vielleicht für Raheem Sterling zum Zuge kommen – könnte, vielleicht.
Geht es nach den englischen Fans, stünde Vardy in der Stammformation. Verschiedene Handyvideos aus heimischen Pubs zeigen, wie trinkfeste Anhänger den Jamie-Vardy-Song im Kollektiv skandieren. Als der 29-Jährige im zweiten EM-Spiel gegen Wales nach der Halbzeit eingewechselt wurde, feierten sie dies fast schon wie einen Treffer. Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt führte Wales 1:0. Es gab für die englischen Fans also eher Grund zur Besorgnis als zum Jubel.
Für die Fans ist Vardy gesetzt. Seine Cinderella-Story ist seit dieser bemerkenswerten Saison von Leicester City bekannt: Ein notorisch Verhaltensauffälliger mit Hang zu Pub-Besuchen hat den Sprung zum Berufsfussballer verpasst und lässt es einige Male in den Kneipen statt auf dem Fussballplatz krachen. Er kickt mit 22 Jahren in den Niederungen des Amateurfussballs, wo er mitunter durch seine elektronische Fussfessel wegen einer Ausgangssperre auffällt, bringt es dann aber doch noch zum Profi und schafft mit Leicester die Fussballsensation schlechthin. Sein Aufstieg führt ihn bis ins englische Nationalteam und zur EM und danach möglicherweise zu Arsenal.
«Ich brauche das einfach»
Im EM-Camp lieferte Vardy prompt die nächste amüsante Story. Paparazzi lichteten ihn vor einem Training mit einem Energydrink und einer Dose Kautabak in der Hand ab, worauf Vardy cool antwortete: «Ich brauche das einfach. Das ist etwas, was ich schon immer tue.» Krafträume dagegen meide er, weil die ihn langsam machen würden. Das letzte Gewicht, das er gehoben habe? «Wahrscheinlich die Dose Energydrink», so Vardy.
Geschichten wie diese machen Vardy zum Liebling der Fans. Sie sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter seiner Entwicklung auch viel Disziplin und harte Arbeit steckt. Als Amateur musste er einen Vollzeit-Job mit dem Fussball vereinbaren, später die im Vergleich zu den Profis körperlichen Defizite abtrainieren.
Möglich, dass der 29-Jährige aus Sheffield derzeit auf der Erfolgswelle seines Lebens reitet, dass er von diesem Flow profitiert. Zweifel an seinen Qualitäten bestehen indes nicht. Seine Schnelligkeit, Agilität und Kaltschnäuzigkeit waren auch schon im Jugendalter augenscheinlich. Es dauerte einfach etwas länger, bis die Teilchen griffen.
Sollte Hodgson im letzten Gruppenspiel am Montag gegen die Slowakei nicht von Beginn weg auf Vardy setzen, dann vielleicht auch, weil er sich einen Effekt verspricht, wenn er den Liebling mit der Igelfrisur und dem oft griesgrämigen Gesichtsausdruck als Joker bringt. So wie im letzten Spiel gegen Wales.