Kaltblütiger Mord oder vorsätzliche Tötung? Das muss das Kantonsgericht St. Gallen im Fall eines Mannes entscheiden, der bei einem Streit zwischen kosovarischen Familien in Wil SG im Jahr 2008 einen Familienvater und dessen 18-jährigen Sohn auf offener Strasse erschoss.
Das Kreisgericht Wil hatte den Täter im vergangenen Juni des doppelten Mordes schuldig gesprochen. Der Gerichtspräsident bezeichnete die Tat als kaltblütige «öffentliche Hinrichtung» vor den Augen des zweiten Sohns.
Zwischen den beiden verfeindeten Familien war es wiederholt zu Drohungen, Beschimpfungen und Schlägereien gekommen. Am 3. Mai 2008 trafen drei Mitglieder der einen und fünf Angehörige der andern Familie in der Nähe des Bahnhofs Wil aufeinander. Die späteren Opfer bremsten ihre Gegner mit dem Auto aus und zwangen sie zum Anhalten.
Danach gingen der Vater und einer der Söhne mit Schlagstöcken auf ihre ebenfalls bewaffneten Gegner los. Da zog der Haupttäter eine Pistole und schoss auf die zwei Angreifer. Als diese bereits getroffen waren, tötete er sie mit Schüssen in den Kopf und in den Hals. Insgesamt wurden neun Schüsse abgegeben.
Raufhandel als Auslöser
Die erste Instanz ging mit einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmass von 15 Jahren hinaus. Das Kreisgericht habe mit seinem Urteil das Anklageprinzip verletzt, sagte der Verteidiger am Montag in der Berufungsverhandlung.
Im Urteil stehe auch kein Wort über die aktive und aggressive Rolle der Opfer. Sein Mandant habe die Tötung der beiden Männer nicht geplant, es sei von einem Raufhandel auszugehen. Er habe nur seinem Bruder und seinem Sohn helfen wollen.
Er könne sich nur noch an den ersten Schuss erinnern, sagte der 52-Jährige, der seit 1983 in der Schweiz lebt. Er habe nur einen Warnschuss abgeben wollen. Einige Stunden nach der Tat hat er sich der Polizei gestellt.
Der Beschuldigte sei vom Vorwurf des Mordes freizusprechen. Er lediglich der mehrfachen vorsätzlichen Tötung, des Raufhandels und der mehrfachen Widerhandlung gegen das Waffengesetz schuldig zu sprechen und mit einer Freiheitsstrafe von nicht über 12 Jahren zu bestrafen, plädierte der Verteidiger.
Opfer aus nächster Nähe erschossen
Die Berufung sei abzuweisen, forderte stattdessen der Staatsanwalt. Der Angeklagte habe die Familienehre mit Blut reinwaschen wollen und deswegen zwei geladene Waffen bei sich gehabt. Er sei besonders skrupellos vorgegangen. «Indem er aus nächster Nähe schoss, liess er den Opfern keine Chance zum Überleben», sagte der Staatsanwalt.
Gemäss dem erstinstanzlichen Urteil beging er zusätzlich noch einen Mordversuch, indem er auf den flüchtenden Zwillingsbruder des getöteten Sohns schoss. Die Verteidigung forderte hier einen Freispruch. Es sei nicht erwiesen, wer geschossen habe. Möglicherweise ein Bruder des 52-Jährigen, der Schmauchspuren an den Fingern hatte.
Der Mann wurde in erster Instanz freigesprochen. Das Urteil ist rechtskräftig. Ein zweiter Bruder und ein Sohn des Haupttäters erhielten bedingte Freiheitsstrafen von je acht Monaten wegen Schlägereien. Der heute 23-jährige Mann, dessen Vater und Bruder bei der blutigen Familienfehde erschossen wurden, war ebenfalls wegen Raufereien angeklagt. Das Gericht sprach ihn frei.
Das Urteil des Kantonsgerichts wird schriftlich eröffnet.