Venedig erlebt einen ersten Höhepunkt: «Birdman» von Alejandro González Iñárritu begeistert mit unbändigem Wirklichkeitsspiel. Schwere Ausgangslange für die Nachfolger im Wettbewerb des Filmfestivals.
Venedig hat seine ersten Höhepunkte. Das Festival in der Lagunenstadt zeigt Biss, Erfindergeist und politische Haltung. Hervorragend gleich zur Eröffnung ist der erste Wettbewerbsfilm: «Birdman» setzt Massstäbe, für das Kino der Stars.
Wer hätte gedacht, dass ausgerechet ein Mexikaner, der in Hollywood immer etwas an den Rand geschoben wird, jetzt den Starrummel als Thema aufnimmt, und einen brillanten Film daraus macht. «Birdman» beginnt mit Paukenschlägen. Schlag um Schlag knallt der Titel auf die Leinwand. Der Film stellt dann seine These gleich an den Anfang. Trommelnd bilden die Buchstaben vor unseren Augen einen Satz. Hier wird nach dem Sinn des Lebens gefragt. Und danach, ob man im Leben etwas will, was diesen Sinn ausmacht. Liebe?
Übernatürliche Kräfte im Spiel
Riggan Thomson (Michael Keaton), ist Regisseur und Produzent einer Theateraufführung in Entstehung. Aber Riggan ist in Schwierigkeiten: Er hat einen schlechten Schauspieler im Team. Es geht ihm als Regisseur nicht anders, als John Huston, der einmal sagte: «Ich hasse schlechte Schauspieler!» Riggan will den Kollegen loswerden.
Als ein Schweinwerfer den Kollegen erschlägt, glauben alle an einen Unfall. Nur Riggan weiss mehr: Er hat nämlich übernatürliche Kräfte. Er lässt einen Scheinwerfer auf den schlechten Kollegen fallen.
Iñárritu hält Balance zwischen Suspence und Komik:
Obwohl der Mexikaner Alejandro González Iñárritu sich erbarmungslos auf Realitätssuche begibt, schreckt er nicht vor Traumbildern zurück: Er reisst einen prächtig geführten Realismus–Diskurs vom Zaun.
Die Realitätsauffassung seiner Schauspieler bringt den Regisseur Riggan Thomson gleich mehrfach in die Klemme: Um ihn herum spielen alle – sind ja auch Schauspieler. Auch die Kulturredaktorin, der Riggan erklärt, seine Inszenierung habe etwas mit Wirklichkeitsauffassung von Roland Barthes zu tun, wirkt irgendwie unecht, als sie mit der Frage nachhakt. «Ist das ein Schauspieler? Aus welchem Film?»
Das Leben wird geprobt
Iñárritu lässt seine Figuren das Leben proben. Das führt uns, wie nebenbei, in eine faszinierenden Realismus-Debatte, vor allem in einer Frage: Wann ist Liebe echt? Das beginnt mit dem Arbeitsantritt des neuen Kollegen, der den Geliebten spielen soll. Er entpuppt sich als absoluter Realismus-Freak. Er will nichts spielen. Er will alles nur «sein», und Edward Norton spielt das so echt, dass wir fast glauben, er sei so.
Er will keinen Text lernen. Er will ihn sich einfallen lassen. Er will echten Schnaps trinken auf der Bühne, er will sich wirklich bedroht fühlen auf der Bühne, er will sogar auf der Bühne echt beischlafen.
Bei solchen Exzessen sollen wir den Schauspielern – auch im Film – endlich wieder glauben, was ihnen im Theater längst abhanden gekommen ist: Dass sie wirklich echt sind.
Der «Nackte Wahnsinn» reloaded
Hierfür nutzt Iñárritu ein altes Theatermuster: Er lässt die Aufführung proben. Für einmal hält er auch eine einzige Geschichte im Zentrum. Eine Theaterauffürung entsteht. Hochmusikalisch, brillant montiert, sensationell gespielt und Bild für Bild der filmischen Narrration verpflichtet, entwickelt er seine Tragik-Komödie, und ist: lustig!
Als hätte Iñárritu den «Nackten Wahnsinn» von Michael Frayn aus den Neunzigern in unser Jahrtausend geholt. Erbarmungslos, zynisch, beziehungsgestört und mit allen Theatermitteln dekonsturiert er seine Geschichte.
Wer gewinnt? Spiel oder Wirklichkeit? Michael Keaton und Edward Norton kämpfen bis auf die Unterwäsche.
Micheal Keaton wird mit jeder Einstellung besser und durchschauberer
Im Zentrum steht Riggan. Realismus ist sein grosses Thema, als Regisseur. Riggan gerät aber auch als Schauspieler rasch ins Trudeln: Ihm wird bald klar, dass er zwar eine Filmberühmtheit ist, aber kein Theater-Schauspieler. Der Neue ist besser! Und er sahnt bei den Zuschauern ab.
Da helfen Riggan keine Bühnentricks. Erst die Realität hilft Reggan, voll in seine Rolle zurück. «Was meinen wir mit Liebe, wenn wir von Liebe reden?» ist die Hauptfrage des Stücks, das an diesem Abend Première feiert.
Als Riggan ausgerechnet seinen schauspielerischen Rivalen (echt cool gespielt von Edward Norton) mit seiner Tochter in echt knutschen sieht, gerät sein Bühnenleben in neue realistische Dimensionen. Es ist jener Tag, da sein Rivale ihm sagt, er könne nur auf der Bühne wirklich real sein, im Leben komme er sich immer nur gekünstelt vor.
Der Theaterfilm wird zum Theater im Film
Iñárritu erzählt atemlos, detailverliebt und hält immer gleich mehrere Geschichten in einer Geschichte am Laufen. Iñárritu beweist aber auch vor allem eines: in Schauspieler verliebt zu sein, war schon immer seine Stärke.
Jetzt macht er sie auch zu seinem Inhalt: Das ist eine Liebeserklärung an all jene Künstler, die sich täglich demütigen, bekämpfen, kränken lassen, Ängste ausstehen und keine Mühe scheuen, um vorne an der Rampe zu stehen, um uns Menschen näherzubringen, die wir in der Wirklichkeit gerne lieber nicht so sähen.
Iñárritu erzählt aber nicht eine Theatergeschichte. Er ist viel zu tief im aktuellen Filmschaffen verstrickt. Er nennt Stile, Serien und Filme beim Namen, nennt Freunde gar namentlich, um die Ironie zu wahren.
Wie sehr Riggan sich auf der Bühne wehrt
Als Reggan in einer Spielpause der Generalprobe sich beim Rauchen aussperrt, holt er die Realität endgültig in sein Spiel. Mit einem Auftritt in Unterwäsche vor dem Theater macht er sein Comeback auf der Bühne zu einem Schauspiel auch für die Medien: Bis zu dem Punkt war er nur prominent, jetzt muss er sich als Schauspieler beweisen.
Doch die Realität dringt immer fordernder auf die Bühne. Iñárritu lässt den Strassenmusiker, der in den Anfangssequenzen noch die Paukenschläge lieferte, auch lebendig im Bild als Schlagzeuger im Theater erscheinen. Er sitzt, sowie die Realität näher rückt, als Musiker auf der Probe.
Ein Schauspielerfest
Iñárritu deutet uns gleich mehrfach ein mögliches Ende an, entschliesst sich dann aber dennoch zu einem noch bedeutenderen Finale. Tatsächlich siegt am Schluss die Realität! Aber was heisst das für einen Schauspieler, wenn die Realität in jenem Augenblick siegt, in dem eine Figur sich umbringt, die danach vielleicht wieder aufsteht?
Er schafft schliesslich gar den grossen Antagonismus der Film-Schauspieltechnik von Theater-Schauspieltechnik ab: Das Ende ist so opernhaft verzögert, dass es in einem einzigen ungläubigen Blick der Tochter von Riggan zusammengefasst ist: glücklich und gleichzeitig entsetzt über die Phantasie des Vaters.