Die Anrufung der Ventilklausel für acht osteuropäische EU-Staaten löse die Probleme durch die steigende Einwanderung nicht. Darin herrscht in den Reaktionen auf den Bundesratsentscheid seltene Einigkeit. Es handle sich bloss um ein Signal. Die EU bedauert.
Höchst unzufrieden ist der Schweizerische Bauernverband. Dies sagte Fritz Schober, Leiter Departement Soziales, Bildung, Dienstleistungen, auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda sagte. Die Anrufung der Ventilklausel führe insbesondere bei Betrieben mit intensiver Produktion zu vermehrten Kosten, ohne das grundsätzliche Problem der hohen Einwanderung zu lösen.
„Zudem ist zu befürchten, dass die EU sich diese Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres gefallen lassen wird und deshalb Retorsionsmassnahmen einleiten wird“, sagte Schober. Der Weiterentwicklung des freien Personenverkehrs sei die Anrufung der Ventilklausel sicher nicht dienlich.
Unbehagen ernst genommen
Offenbar nehme der Bundesrat das Unbehagen in der Bevölkerung über die gestiegene Zuwanderung ernst, schreiben der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) und der Wirtschaftsdachverband economiesuisse in einem gemeinsamen Communiqué. Aus diesem Blickwinkel und weil die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen verkraftbar bleiben würden, sei der bundesrätliche Entscheid akzeptabel.
Er löse aber keines der Probleme, die – zum Teil fälschlicherweise – der Personenfreizügigkeit angelastet würden. Die unerwünschten Nebenwirkungen der Personenfreizügigkeit müssten mit gezielten sachpolitischen Massnahmen angegangen werden.
SAV und economiesuisse wollen deshalb in den kommenden Monaten einen Dialog über konkrete sachpolitische Massnahmen anstossen, mit denen sich der sogenannte Dichtestress, beispielsweise auf dem Wohnungsmarkt oder im Infrastrukturbereich, wirksam bekämpfen lasse.
Der Schweizerische Gewerbeverband (sgv) bezeichnet in einem Communiqué die Ventilklausel als ein notwendiges Signal, um die Befürchtungen der Schweizerinnen und Schweizer bezüglich der hohen Zuwanderungsquoten zu mildern. Der sgv stehe voll und ganz hinter dieser temporären Begrenzung der Einwanderung, obwohl diese Massnahme vorab symbolische Wirkung habe.
Psychologische Massnahme
Für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund ist die Ventilklausel gemäss ihrem Sprecher Ewald Ackermann eher eine psychologische Massnahme als ein Beitrag zur Lösung der Probleme. Bei so festgelegten Beschränkungen der B-Bewilligungen könnten Arbeitgeber immer noch auf L-Bewilligungen (Kurzaufenthalt) ausweichen, was zu mehr prekären befristeten Anstellungen führen könne.
Die Lösung liege in griffigen flankierenden Massnahmen: mehr Kontrollen bei Entsendefirmen und gegen Scheinselbständigkeit, die Solidarhaftung gegen Dumping aus Subunternehmerkonstrukten, ein Normalarbeitsvertrag mit gutem Mindestlohn in der Landwirtschaft und 2013 die Weiterführung des Normalarbeitsvertrages Hauswirtschaft.
Auch die SP Schweiz drängt auf die rasche Einrichtung solcher flankierender Massnahmen. Die Ventilklausel alleine löse gar nichts, schreibt die Partei in einem Communiqué. Mit ihr liessen sich weder das Lohndumping noch die Überhitzung auf den Wohnungsmärkten in den Ballungszentren nachhaltig verhindern.
Auf halbem Weg stehengeblieben
Die FDP ist verärgert, dass die Ventilklausel nur für ein Jahr gilt. Möglich wären nach dem Freizügigkeitsabkommen zwei Jahre. „Der Bundesrat ist auf halbem Weg stehengeblieben“, heisst es in einem Communiqué. Das sei nun wirklich wenig konsequent, zumal sich die Situation bei der Zuwanderung in zwölf Monaten wohl kaum gross verändern werde.
Zufrieden ist die CVP. „Wir haben schon 2009 unseren Unmut über die Nichtanrufung der Ventilklausel geäussert“, sagte CVP-Sprecherin Marianne Binder. Dass die Landesregierung dies nun tue, zeige, dass sie die Sorgen der Bevölkerung ernst nehme und willens sei, die migrationspolitische Handlungsfreiheit zu nutzen.
Auch für die SVP ist die Anrufung der Ventilklausel eine Selbstverständlichkeit, wie sie in einem Communiqué festhält. Die wenigen, noch zur Verfügung stehenden Instrumente zur Steuerung der Zuwanderung seien konsequent zu nutzen, auch wenn die Ventilklausel im vorliegenden Fall nur von äusserst begrenzter und kurzer Wirkung sei.
Bedauern in Brüssel
Die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton hat den Entscheid des Bundesrates „bedauert“. Es sei ein Verstoss gegen das Freizügigkeitsabkommen, erklärte sie am Mittwoch.
Das Abkommen, so wie es 2004 ergänzt wurde, erlaube es nicht, EU-Bürgerinnen und -Bürger unterschiedlich zu behandeln. „Diese Massnahme ist weder wirtschaftlich durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt gerechtfertigt, noch durch die Anzahl EU-Bürger, die um einen Aufenthalt in der Schweiz nachsuchen“, erklärte Ashton.