Jetzt im Kino: Verdingbub. Schweizer Geschichte, Eidgenössische Denkmal-Pflege, die Armut gerne übersieht – im eigenen Land. Die Kritik unseres Filmbloggers.
Im Titel lauert, was bald Wirklichkeit wird: Ein Mensch wird zum Ding. Mitten in der Schweiz. Am Rande einer blühenden Wirtschaft. Ein Waise wird einer Ersatzfamilie zugeordnet, verwaltet, benützt, verbraucht und – fast – vernichtet. Das ist nicht eine Geschichte aus dem Thriller-Kabinett für Off-Hollywood: Es ist Schweizer Geschichte, Eidgenössische Denkmal-Pflege, die Armut gerne übersieht – im eigenen Land.
Erst sieht alles nach einem bürokratischen Verwaltungsakt aus: Ein Bub kommt auf einen Hof, die „Dunkelmatt“. Er muss arbeiten. Er kriegt zu essen. Und er kriegt Aufmerksamkeit. (sprich „en Chlapf ab und zue“). Fast unbemerkt wird er in der Armut, der körperlichen Not, und schliesslich im psychisches Elend der Gastfamilie erstickt. Schleichend wendet sich alles gegen ihn: Kirche. Natur. Hof. Schliesslich wird ihm gar das eigene Zimmer zur Bedrohung. Wir werden Zeugen, wie ein Kind zu einem Flüchtling wird, zu einem, der sich durch Auswanderung dem Elend im Land entzieht.
Der Film schaut auf ein nicht gern gesehenes Thema: Armut. In der Schweiz? In eindrücklichen Bildern (von Peter von Haller wohltuend komponiert), die die bäuerliche Enge ebenso einfangen, wie die landschaftliche Weite, zeichnet VERDINGBUB den Weg eines Niedergangs: Während in der Schule des Dorfes noch von einem Agrarland Schweiz die Rede ist, stehen die Zeichen auf der Dunkelmatt schon auf Landflucht. Schleichend. Dabei wehrt sich nicht nur der Bub dagegen, zu einem Ding zu werden. Es wehren sich fast alle auf dem Hof dagegen. Auch das andere Verdingkind, das Berteli, das in noch traurigere Not gerät, wehrt sich. Alle wehren sich, nicht miteinander, sondern gegeneinander, gegen die Verelendung ihrer Arbeit.
Wo Gotthelf sich der Suche nach wirtschaftlichen Gründen verweigert hat, deutet Imboden die Suche nach Schuldigen immerhin an. Das Elend liegt im Mensch selbst. Das nimmt dem Film den Zahn, macht ihn berührend, aber nicht wirklich bissig. Schicksalsergeben werden alle zu Mitmachern. Über den Namen der „Bösigers“ führt nicht viel hinaus. Es sind halt die „Bösigers“. Und die „Dunkelmatt“ ist die „Dunkelmatt“ Immerhin: Die Lehrerin wehrt sich – und wird prompt entlassen. Die Behörden behandelten damals Sozialfälle wie andernorts Armuts-Flüchtlinge: Wie Dinge.
Wunderbar besetzte Schauspieler lassen diese widersprüchliche Welt entstehen. Wie schön entsetzlich lässt uns Stefan Kurt in die Not dieses Bauern sehen! Wie störrisch kann Max Hubacher seinen Jungen klingen lassen. Wie verloren lässt Simonischek seinen Bauern chrampfen. Wie kalt kann uns diese Riemann das Elend „über den Rücken hinablaufen“ lassen! – auch wenn uns Synchronstimmen oft zu deutlich sagen wollen, was wir selber entdecken möchten: Sie verraten uns oft, was als Geheimnis über dem Film schweben könnte, auch noch im Gesagten. Schulmeisterlich lässt der Dialog die Figuren aussprechen, was in der Stille zu fürchterlicher Geltung käme. Doch dem Sog der Geschichte kann das nichts anhaben: Die Geschichte wird zunehmend dichter. Zum Schluss hat der Bub einen Namen: Es ist ein häufiger Name. Der Film ist ein kleines Denkmal für all jene die es schafften, als „Ding“ doch Mensch zu bleiben, als Migranten. Mitten unter uns. 100 000 Mal.
- Verdingbub schlägt Kassenrekorde