Die Frau vor der Kamera weiss nicht genau, warum sie hier ist. Die eigentliche Hauptperson des Filmes scheint ohnehin hinter der Kamera zu stehen, soviel wird rasch klar. Wir sehen sie nur ganz selten in der Wohnung. Es ist der Filmemacher, um den sich eigentlich alles dreht, was sich vor der Kamera abspielt. Die alte Frau, in deren Alltag wir blicken, ist ohne Zweifel die wichtigste Person in dessen Leben (Es ist seine Mutter). Der alte Mann, der den Alltag der Mutter organisiert, sein geduldiger Partner (Es ist sein Vater). Der Sohn ist seinen Eltern auf der Spur.
David Sieveking ist der einzige, den seine Mutter so nahe an sich ran lässt, so dass wir sie erleben, als wäre sie unsere eigene. Er hilft ihr beim Aufstehen, er betreut sie beim Essen, er hilft ihren Gedanken auf die Sprünge – und folgt ihren Gedankensprüngen. Ganz langsam nur erreicht den Sohn die Tragweite der Diagnose, die die Ärzte stellen: Mutter hat Alzheimer. Im fortgeschrittenen Stadium. Es gibt Augenblicke, in denen kennt sie ihren Sohn nicht wieder. «Bevor ich vergesse, wer mein Sohn ist, vergessen ich, wer ich selber war», sagte mein eigener Vater kurz vor seinem Tod, als seine Demenz bereits fortgeschritten war.
Das ist das schöne an dem Film: Dass er mich so entspannt erinnern lässt, wie es bei meinem Vater war. Der Film entwickelt kein Rezept. Er weckt nur eine zunehmende Neugier, was als Nächstes kommt. Die litauische Pflegehilfe bringt noch einmal ein neues Leben ins Haus. Eine Krankheit bringt Mutter ins Pflegeheim. Wie verkraftet sie es, wenn sie wieder nach Hause zurückkommt? Was wird sie sagen, wenn sie noch einmal mit ihrem Gatten an den Ort ihrer ersten Liebe zurückkehrt?
Auch das vermag «Vergiss Mein Nicht»: Spürbar zu machen, dass es nie zu spät ist, seine Eltern etwas zu fragen. Dass es nur zu spät sein kann, darauf eine Antwort zu erhalten. Als die Mutter kaum mehr ansprechbar scheint, ist die ganze Familie da gewesen. Alle haben sich in ihrer Nähe noch einmal gefunden. Die Hauptperson des Filmes hat das getan, was ein guter Sohn tun soll: Er hat die Liebsten versammelt. Dass er das auf der Leinwand tut, macht das Unterfangen umso lobenswerter: Er hat auch für uns etwas von seiner Hilflosigkeit erhalten.
«Vergiss Mein Nicht» ist nämlich nicht zuletzt ein Loblied auf die Hilflosigkeit. Die eigene. In die wir geraten, wenn neben uns ein geliebter Mensch einen neuen Verstand zugeteilt erhält, der unseren, bisherigen, erst einmal in weiten Teilen übersteigt.
«Vergiss Mein Nicht» ist aber auch ein Anstoss, das Gedächtnis zu nutzen, solange es uns noch zur Verfügung steht. Das Gedächtnis der anderen. Das eigene werden wir wohl nie ganz verlieren. Wir müssen uns wohl nur damit abfinden, dass wir es irgend wann einmal neu organisieren müssen.