Wer wird Schwingerkönig? Der Favorit, der ohne Verletzung durchkommt. Die zugespitzte Antwort trifft den Kern, denn die Verletzungsgefahr ist auch für die Besten im Sägemehl eine ständige Begleiterin.
Rippenprellung, Rippenbruch, Schlüsselbeinbruch, Schulterprellung, Rückenprobleme, Oberschenkelzerrung, Muskelfaserriss, Knöchelverstauchung, Kapselriss und weit oben in der Hitliste: Kniescheibenverletzung, Bänderzerrung, Bänderdehnung, Bänderriss, Meniskusschaden, Knorpelschaden, Kreuzbandriss. Für die schwächeren wie auch für die bösen Schwinger ist die Gefahr von Verletzungen jeglicher Art eine ständige Begleiterin. Keiner weiss, wie die Saison ausgehen wird, die er mit Hoffnung und Zielen in Angriff genommen hat. Und wenn am Ende der Saison das Eidgenössische Fest steht, schwingt Sonntag für Sonntag eine Ungewissheit mit.
Ernsthaft verletzte Schwinger gab es schon vor 20, 30, 40 Jahren. Verlässliche Statistiken über die Verletzungen in den einzelnen Jahren und vor allem in den eidgenössischen Jahren liegen nicht vor. Deshalb muss man sich auf einen allgemeinen Eindruck verlassen. Dieser besagt, dass die Zahl verletzter eidgenössischer Kranzschwinger vor keinem Eidgenössischen so hoch war wie in der Saison 2016, die am 27./28. August mit dem Höhepunkt in Estavayer FR abgeschlossen wird.
Die Aufzählung der havarierten Sägemehlakrobaten will nicht aufhören. Beginnen tut sie beim Berner Dreigestirn. Schwingerkönig Matthias Sempach konnte nach fast einjähriger Pause infolge einer gravierenden Fussverletzung und einer anschliessenden Bauchmuskelzerrung erst Mitte Mai wieder eingreifen. Seither hat er immerhin Ruhe. Kurz vorher war eine Leidenszeit von Schwingerkönig Kilian Wenger zu Ende gegangen. Aber noch im Mai musste der Berner Oberländer wegen Rückenproblemen ein weiteres, diesmal kurzes Timeout einlegen.
Berner stark heimgesucht
Christian Stucki schlug sich zu Beginn der Saison mit einer Schambeinverletzung herum. Danach konnte der Seeländer einige Zeit schwingen, bis er Mitte Juli, just vor dem Berner Kantonalfest, eine Oberschenkelverletzung melden musste, die sich zu seinem Glück nur als Zerrung herausstellte. Der Start in Estavayer respektive in der 52’016 Fans fassenden Arena von Payerne VD ist gesichert. Aber wie sieht es mit einer vernünftigen Vorbereitung aus? Immerhin konnte er zwei Wochen vor dem Eidgenössischen einen valablen Formtest absolvieren. Er gewann den Schwinget in Oberwil BL mit sechs Siegen.
Wenn es heuer im Sägemehlring knackte, stammte das Knacken oft von einem Körperteil eines Berners. Tatsächlich erlitten ein paar namhafte Berner Trümpfe teilweise relevante Verletzungen. Sie seien aufgezählt: Florian Gnägi, Willy Graber, Simon Anderegg, Beat Wampfler, der ohnehin oft von Verletzungen heimgesuchte Matthias Siegenthaler und der hoffnungsvolle Youngster Remo Käser, Sohn von Schwingerkönig Adrian Käser. Wer sich in welcher Form in Estavayer präsentieren wird, wird man sehen.
Joel Wicki – gewichtiger Ausfall
Auch Spitzenschwinger der beiden anderen grossen Verbände Innerschweiz und Nordostschweiz blieben nicht verschont. Die bekanntesten Oldies Arnold Forrer und Martin Grab mussten zwischendurch wegen Verletzungen pausieren, ebenso der aufstrebende Jüngling Samuel Giger. Auch Christian Schuler konnte nicht die ganze Saison bestreiten. Benji von Ah verletzte sich derart, dass er die Innerschweizer Delegation am Eidgenössischen nicht wird anführen können. Seine Ellbogenverletzung wird nicht rechtzeitig ausgeheilt sein. Die junge Innerschweizer Hoffnung Joel Wicki erlitt zwei Wochen vor dem Eidgenössischen einen Unterschenkelbruch. Wickis Abwesenheit wird den Innerschweizern, die endlich zum zweiten Mal in der Geschichte den Schwingerkönig stellen wollen, sehr wehtun.
Einer der Pechvögel war auch der starke Youngster Pirmin Reichmuth aus dem Zugerischen. Kaum hatte er sich von seinem zweiten Kreuzbandriss erholt, verletzte er sich erneut. Mittlerweile ist er wieder gut im Wettkampf. Für den 17-jährigen, 202 Zentimeter grossen Hünen Michael Bächli vom Nordwestschweizer Verband ist die Saison dagegen vorbei. Der Aargauer erlitt seine zweite Kreuzbandverletzung in zehn Monaten.
Wie ist die Häufung von Verletzungen im eidgenössischen Jahr zu erklären? Laut dem Zürcher Sportarzt Walter Frey kann es mit der Entwicklung der Sportart zusammenhängen. Genauso gut könne es aber ein Ausreisser sein, ein Unglücksjahr mit besonders vielen Verletzungen. «Jeder Fall ist ein Einzelfall. Um verlässliche Aussagen zu machen, müsste man schon vollständige Statistiken von den früheren Jahren haben», sagt Frey. Solche liegen nicht vor, weder im eidgenössischen Verband noch bei der Schwingerversicherung. Die Verletzungen der Mittelschwinger und der schwächeren Schwinger werden zum grössten Teil gar nicht publik. Ja, sie werden oft nicht einmal zur Kenntnis genommen, und Buch geführt wird darüber erst recht nicht.
Kreuzbandriss als GAU
Walter Frey, zu dessen Patienten auch etliche Schwinger zählen, räumt ein, dass die Entwicklung des Schwingens eine Rolle spielen kann. Auch nach Freys Einschätzung spielte früher allein schon das Körpergewicht eine grosse Rolle, ob es nun mit Muskeln oder mit Fett zustande kam. «Ein Schwinger wollte damals vor allem Masse haben. Das gab ihm die Gewissheit, dass er schwer zu besiegen war.»
Die älteren noch aktiven Schwinger bestätigen, dass sich der Sport mehr und mehr in Richtung Athletik, Kraft und Schnellkraft entwickelt hat. Die Schwünge und Züge sind explosiver geworden. Die Kräfte, die auf die Gelenke wirken, sind enorm. Und am häufigsten spüren es die Knie. Der Albtraum jedes Schwingers hat einen Namen: Kreuzbandriss. Der Kreuzbandriss bedeutet immer, dass die Saison per sofort zu Ende ist. So führt den jeder böse Schwinger zwei Knie der Nation mit sich.