Ein grauer Tag – ideal, um zünftig voranzukommen. Ideal vor allem, um das dicht bebaute Mittelland zu durchqueren.
Das Dach des Naturfreundehauses war breit genug. Der Regen hat den Schlafsack nicht erreichen können. Irgendwas hat mich erschreckt um ein Uhr nachts: War`s ein Albtraum, eine Maus, die mir übers Gesicht gekrochen ist oder der prasselnde Regen? Zündete mit der Taschenlampe ins Dunkel. Auf den Steinplatten spritzten die Tropfen hoch, als wären sie Gummibälle. Ich begann fieberhaft zu berechnen, ob der Schutz des Daches wohl eine Nacht lang ausreichen würde.
Eigentlich gab es da gar nichts zu berechnen, ich dachte einfach, dass die Feuchtigkeit irgendwann mal doch näher kriechen könnte. Weiter unten hatte ich beim Aufstieg ein offenes Heuhüttchen stehen sehen, doch um zu zügeln, war es nun wohl zu spät, vor allem zu umständlich. Eine Maus leistete mir bei meinen Überlegungen Gesellschaft. Ich schätzte es gar nicht, wie sie mich mit ihren Stecknadelaugen beobachtete. Der Einfachheit halber schlief ich wieder ein, bis mich ein Hund um halb sieben weckte. Er strich in der Nähe vorbei, verschwand wieder, und der Schlummer kehrte zurück.
Kein Regen mehr beim Losziehen, aber Nässe überall. Tropfende Bäume, aufgeweichte Wege, saftende Wiesen. Die Hunde beim Balmis gaben nicht an, der steile Weidhang nach Erlinsbach ohne Kühe, Rinder, Pferde.
Falsche Richtung?
Wenn immer mich Leute fragen, warum ich von Norden nach Süden wandere und nicht umgekehrt, so weiss ich auf all ihre überzeugenden Argumente nur eins: Es zieht mich immer nach Süden. Dabei wäre es einsichtig, im Frühling im Süden Italiens zu starten und im Herbst in den angenehmen Temperaturen des Nordens zu wandern. Statt ins ausgetrocknete Sizilien hinunter zu wandern.
Und doch schien es mir, beim Barmelhof angekommen, dass ich vielleicht falsch lag. Gestern hatte ich bis zum Verwünschen erlebt, dass am Montag im Baselbiet alle Beizen geschlossen sind. Ich tröstete mich damit, dass ich am Dienstag dann offene Häuser fände. Doch offenbar ist es im Aargau anders – hier ist am Dienstag alles geschlossen, auf dem Land zumindest. Auch der Barmelhof, diese leicht verkommene Bauernwirtschaft, hinter der kleine Katzen spielten, wo auf den Tischen noch volle Aschenbecher und leere Kaffi-Fertig-Gläser standen. Hatte vielleicht doch die falsche Richtung gewählt. Aber ob ich ausgerechnet an einem Montag durch den Aargau und am Dienstag durchs Baselbiet gekommen wäre – wer weiss…
Der Spaziergang von der Schafmatt herunter, der Barmelhof – das hatte mir so ein bisschen einen Frieden gegeben. Dann kam ich nach Erlinsbach, ins erste Dorf südlich des Juras. Viele Leute haben ihr Häuschen gebaut hier, und viele andere auf dem Weg nach Aarau. Auf meiner ganzen bisherigen Reise habe ich nirgends ein solches Durcheinander von Baustilen gesehen. Was heisst schon Stil? Es ist eine Geschmacklosigkeit, was Bauherren und Architekten in die Landschaft hineinstellen. Wo immer ich durchgekommen bin, da hatte ich eine gewisse Eigenheit der Häuser erkannt. Bei den alten Gebäuden sowieso. In Schottland, Südengland, der Bretagne, im Loire-Tal und wo auch immer haben die lokal vorhanden Materialien, das Klima oder auch die Art der ländlichen Wirtschaftsform den Baustil geprägt. Wie bei uns wohl auch. Neubauten unterscheiden sich zwar durchaus von den alten Häusern, aber die Formen variieren in einer gewissen Bandbreite.
Architektonische Anarchie
Hier im Aargau, auch im unteren Baselbiet natürlich und, wie ich im Laufe des Tages bis in die Zürcher Vororte feststellen musste, herrscht überall die absolute architektonische Anarchie. Nirgends dürften die Architekten derartige Freiheiten geniessen wie hier – und es ist keine gute Freiheit. Mal ein Wohnblock mit knallig blauen Jalousien und Balkongeländern, etwas später ein billiger Mehrfamilienbau ohne geringste Anzeichen, dass ein gestalterisches Element jemals die Funktionalität hätte beeinträchtigen können. Blätternder Putz, rostige Geländer machen aus solchen Gebäude das schiere Elend. Noch schlimmer die Einfamilienhauskultur: das günstige Fertighaus neben dem englischen Landtraum, ein Chalet neben einer Pagode-Imitation mit silbern leuchtenden Ziegeln, ein Energie-Sparhaus mit horizontaler Bretterverkleidung zwischen hangdeckender Terrassensiedlung. Und überall in den kleinen oder grossen, akkurat abgegrenzten Gärten ein Wildwuchs und ein Durcheinander von einheimischen und exotischen Gehölzen. Rasenmäher kurven dazwischen. Manchmal liegen Gemüsebeete im Rasen.
Die Realität absurder und haltloser Versuche, Eigenständigkeit zu zeigen, der Absturz in eigenbrötlerische Einsamkeit, Beton gewordener Egoismus. Eine schmerzhafte Respektlosigkeit gegenüber der Landschaft, der Natur, der Umgebung – wenn diese jungen Häuser sich dereinst dem Verfall nähern, wird der Anblick schrecklich sein.
Legendary House, Grand Café …
Aarau, Kleinstadt. Biederkeit überall und an jeder Ecke. Ein herausgeputztes Städtchen. Die alten Mauern renoviert. Communication Center steht zum Beispiel an der einen, Legendary House auf einer anderen Fassade. Ein Tea-Room ist dort drin, und jemand versucht es an anderem Ort mit einem Grand Café. Die Leute reden ins Handy, eilen in ein Schnellimbiss-Restaurant, die Serviertochter trägt einen erstaunlichen Minirock, ein Schwarzer wischt die Strasse.
Die Schweiz ist – zumindest im Mittelland – kein Land mehr, sondern eine einzige Stadt mit grossen, aber zunehmend kleiner werdenden Parks dazwischen, welche die Bauern bewirtschaften. Und weil Bauern noch Traktor fahren und auf ihren Höfen wohnen dürfen, halten es alle für ein Agrarland. Dabei ist es Stadt, weitläufige Stadt – auch mit positiven Auswirkungen.
Lenzburg hab ich eilig durchwandert, hatte keine Lust, in eins dieser aufgepeppten und heimelig gestalteten Restaurants – neben dem Bioladen – zu gehen. Bin nach Ammerswil weitergezogen, wo sich die Einfamilienhaussiedlungen ebenfalls angelagert haben. Durch einen Wald ins Freiamt, wo mir «Schilten» andere Erzählungen von Hermann Burger in den Sinn kamen. Diese äusserliche Rechtschaffenheit, die keine Abweichungen erlaubt und alle Ausschweifungen verurteilt. Herrschaftliche Häuser neben Klöstern und irgendwo haben Leute den versteckten Reichtum erwirtschaftet. Wirkt alles bieder heute, grosse Getreidesilos in Villmergen ragen wie drohende Finger in den Himmel.
Eine einzige Stadt, wirklich
In Bremgarten schauten die Leute in die Reuss, wie sie Unmengen von Holz und Baumstämmen unter der alten Brücke durchspülte. In der Innerschweiz muss es zünftig geregnet haben. Die kleinen Geschäfte in der Altstadt sind leer. Sie bieten Kleider, Bioprodukte und Handys an.
Mutschellen, Berikon, Lieli – hier ist die Idee, die Schweiz sei eine einzige Stadt, kein wirrer Gedanke mehr. Hier ist Vorstadt, hier hat der Mittelstand seine Gärtchen und seine isolierten Heime. Die Leute fahren heim aus dem nahen Zürich. Vor Birmensdorf ruht eine riesige Baustelle. Tunnelröhren im einen Hang, Tunnelröhren im anderen, dazwischen Autobahnbrücke. Hier wird Zürich bald umfahren.
In Birmensdorf holt mich Monika ab. Wir fahren über die Anhöhe hinunter in die Stadt, in den Tiergarten. Ein Bad wieder einmal, ein Nachtessen an einem Tisch, ein schönes Bett, eine liebe Frau.
(Zürich, 16. Juli 2002)