Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Observation eines Unfallopfers mithilfe von Privatdetektiven eines Versicherers als Verstoss gegen das Recht auf Schutz des Privatlebens gerügt.
Die Strassburger Richter gaben einer 62-jährigen Zürcherin Recht. Die Frau streitet seit einem Unfall vor über zwanzig Jahren mit ihrer Versicherung über eine Invalidenrente. Mit dem neusten Urteil erhält sie nun eine Genugtuung in Höhe von 8000 Euro.
Der Europäische Gerichtshof kommt zum Schluss, dass die heimliche Überwachung einen Eingriff in die Privatsphäre der Frau darstelle – auch wenn die Observationen ausschliesslich im öffentlichen Raum durchgeführt worden sind. Das systematische Vorgehen sei nicht gesetzeskonform.
Die Richter bezeichneten die entsprechenden Vorschriften in der Schweiz als zu vage: So werde nicht präzisiert, wie lange die Überwachung dauern und was eine Versicherung mit den gesammelten Informationen tun darf.
Langes Hin und Her
Im konkreten Fall geht es um eine Zürcherin, die im August 1995 von einem Motorrad angefahren worden war und dabei schwere Kopfverletzungen erlitten hatte. Mehrere Gutachten kamen zunächst zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit.
Auf der Grundlage dieser Gutachten entschied die Versicherung der Frau, ihre Invalidenrente nach eineinhalb Jahren einzustellen. Diese Entscheidung wurde vom Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich aufgehoben.
Ein neues Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an einer Hirnstörung leidet, die durch den Unfall verursacht worden war. Im März 2002 gewährte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich der Frau daraufhin eine hundertprozentige Invalidenrente.
Die Versicherung entschied dennoch drei Jahre später, ihre Zahlungen einzustellen. Ausserdem forderte sie eine neue ärztliche Untersuchung. Als die Frau dies ablehnte, heuerte das Unternehmen Privatdetektive an. Diese verfolgten die Frau an 23 Tagen mehrere Stunden lang heimlich im öffentlichen Raum, auch über längere Entfernungen. Anschliessend erstellten sie einen Bericht.
Bedenken angemeldet
Im April 2007 kam ein von der Versicherung beauftragter Neurologe in einem anonymen Gutachten zu dem Schluss, die Zürcherin sei nur zu zehn Prozent erwerbsunfähig. Er stützte sich dabei auf den Bericht der Detektive. Die Versicherung kürzte ihre Invalidenrente anschliessend auf zehn Prozent.
Die Klägerin zog gegen diese Entscheidung vergeblich bis zum Bundesgericht. Dieses gab im März 2010 der Versicherung Recht: Die Überwachung der Frau durch Detektive sei legal gewesen, das Gutachten des Neurologen sei glaubwürdig.
Bereits ein Jahr zuvor hatte das Bundesgericht Versicherern grünes Licht gegeben für den Einsatz von Privatdetektiven. Nach Ansicht der Richtermehrheit besteht eine ausreichende gesetzliche Grundlage dafür, dass die Sozialversicherer die Observation möglicher Simulanten durch Privatdetektive in Auftrag geben, wie dies bei der IV schon zulässig ist.
Aber schon damals bewerteten die beiden unterlegenen Richter den über Wochen dauernden Einsatz eines Privatdetektivs als nicht ganz so harmlos wie ihre Kollegen. Sie wiesen auf die Absicht des Bundesrates hin, das Problem explizit zu regeln. Dies lasse darauf schliessen, dass die aktuelle Gesetzesbasis eben nicht ausreiche.
Nach einer Einschätzung der nationalen Kampagne Schutzfaktor M zugunsten der Menschenrechte in der Schweiz könnte der Entscheid aus Strassburg «weitreichende Folgen für die Schweiz» haben: Wird er in seiner jetzigen Form rechtskräftig, muss die Schweiz «die gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Überwachunsgmassnahmen (Art. 43 und 28 ATSG sowie Art. 96 UVG verbunden mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtes) im Sinne des Urteils anpassen und insbesondere zusätzliche Garantien gegen Missbräuche einrichten», schreibt Schutzfaktor M.