Versprechen

Ich gebe es ja zu: Im Theater langweile ich mich öfter als im Kino. Aber wenn ich mich nicht langweile, dann nie gespannter als im Theater. So geschehen im „Versprechen“ im Schauspielhaus Zürich. Ich gebe es ja zu: Im Theater langweile ich mich öfter als im Kino. Aber wenn ich mich nicht langweile, dann nie […]

Ich gebe es ja zu: Im Theater langweile ich mich öfter als im Kino. Aber wenn ich mich nicht langweile, dann nie gespannter als im Theater. So geschehen im „Versprechen“ im Schauspielhaus Zürich.

Ich gebe es ja zu: Im Theater langweile ich mich öfter als im Kino. Aber wenn ich mich nicht langweile, dann nie gespannter als im Theater.

Im Zuschauerraum brennt noch Licht, als ein Mädchen an die Rampe tritt, keck, als wollte es uns etwas ankündigen, während es verlegen uns beobachtet, und sich langsam, ja, provozierend gelassen, rote Farbe auf seine Beine spritzt, sich, ohne sich weiter zu beeilen, sein gelbes Kleidchen zerreisst, die rote Farbe am Boden verschmiert, wobei es weiterhin keck zu uns hinaus schaut, wie wir als Beobachter der Beobachtenden vor eigenen Augen eine Verbrechen entstehen lassen, das gar nicht zu sehen ist. 

Als das Mädchen sich, leicht verrenkt, auf den Boden legt, hat sich in unseren Köpfen wahrhaftig ein grauenhaftes Verbrechen ereignet, ohne dass ein Täter zu sehen gewesen wäre, dessen Tat sich nun in unserem Denken festgesetzt hat und dessen Bestrafung wir nun fordern. Das Gedankenspiel nimmt seinen Lauf.

Da der Täter sofort gefasst und zum Geständnis gedrängt wird, ahnen wir, dass das zu einfach ist: Er bringt sich um, und macht seine Verhaftung mit diesem Selbst-Mord zu einem Justiz-Mord. Die Jäger des Täters sind zum ersten Mal die Täter. Also lesen wir weiter.

Aber, was tun wir eigentlich, wenn wir lesen? Wir nehmen am Denken eines anderen Geistes teil. Weil Dürrenmatt ein grosser Denker ist, ist das Vergnügen ein Doppeltes, weil, an seinem Denken teilnehmen heisst auch immer, sich vom eigenen Denken übertölpeln lassen müssen. Wenn Dürrenmatt auf der Bühne genau gelesen wird, ist das Vergnügen ein dreifaches: Wir irren uns beim Denken nicht allein.

Der Anfang des „Versprechens“ am Schauspielhaus Zürich ist gewissermassen Programm des Abends: Kaum ist das Opfer in unseren Köpfen erschaffen, stellen sich die Spieler uns vor: von Rolle zu Rolle als Fahnder, als Täter, als Mutter, als neues Opfer, schlüpfend, immer sichtbar beobachtend, immer scharf beobachtet handelnd, immer ihren Figuren beobachtete Züge verleihend, folgen wir dem Fahnder auf der Jagd nach dem Täter.

Die SpielerInnen schaffen kleine Menschenskizzen: Nick Rosats kleinlicher Polizist, Jirka Zetts verlorener, vermeintlicher Täter, Markus Scheumanns verbohrter Fahnder, Julia Keuschs verluderte Alleinerziehende und Isabelle Menkes schwächlicher Kontrollfreak. Alles wird uns angedeutet vorgeführt, als wollte uns die Truppe bloss das Lesen erleichtern. Die Bilder wirken alle von leichter Hand skizziert in der silbern schillernden Bergewelt von Claudia Kalinski. (Ach, würden sich die Schweizer Tatort-Macher doch diese Schauspieler anschauen – wie spannend kann so ein Krimi sein!).

Der Köder ist bald ausgeworfen. Das nächste Mädchen im gelben Röckchen wird dem Täter als Opfer vorgeführt. Wir beobachten, was die Fahnder beobachten: Durch die alleinige Annahme eines Verbrechens entsteht ein Verbrechen. Wir nähern uns dem Paroxismus, dem langen, langen, langen Höhepunkt des Abends: Daran kann ein Gerechter zerbrechen. Wir haben Rühmann („Es geschah am helllichten Tag“) als Matthäi scheitern, und Nicholson („The Pledge“) als Fahnder auf der Leinwand durchdrehen sehen. Aber was die Regisseurin Daniela Löffner uns auf der Bühne zumutet, wenn sie Markus Scheumann mit seinen Gehilfen am Schluss des kurzen Abends am Schauspielhaus die kalte Hand des Wahnsinns spüren lässt, ist so schlicht genial einfach wie ergreifend frech: Die Fahnder verstecken sich. Matthäi hält ein wirres Geäst hoch, hoch, anstrengend hoch über seinen Kopf, duckt und duckt und duckt sich hinter dieses Gebüsch, nach dem Täter Ausschau haltend, während das Köder-Kind wieder vorne an der Rampe sitzt und in der Pfütze spielt und Mal um Mal um Mal sein „Boogie- Woogie“-Liedchen singt und summt und trällert, bis auch die letzten im Gedanken gefangen sind: So wie wir jetzt zuschauen, sind wir längst selbst die Täter, ohne uns dagegen wehren zu können, Zuschauer zu sein, auch nicht dagegen, dass die Theater-Techniker schon einmal beginnen abzuräumen, während Mathäi da immer noch seine Tarnung hochhält. Die Sache ist zu Ende gedacht. Wir sind in der Dürrenmattschen Gedankenfalle. Dies ist das Verbrechen. Dass ein Verbrechen nicht gesühnt werden kann, das nicht stattgefunden hat. Dass ein Verbrechen, das stattgefunden hat, ohne Täter bleibt. Dass Gerechtigkeit nicht stattfindet. Wir schauen bloss noch zu.       

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