Verstörend schöne Traumata

Nach diesem «Sandmann» schläft man nicht gut: Christof Loy hat mit der gleichnamigen Oper des Basler Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini ein packendes Theatermärchen inszeniert.

Eindringlich: Nathanael (Ryan McKinny) und Clara (Agneta Eichenholz). (Bild: Monika Rittershaus)

Nach diesem «Sandmann» schläft man nicht gut: Christof Loy hat mit der gleichnamigen Oper des Basler Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini ein packendes Theatermärchen inszeniert.

Schon das erste Bild ist eine Blendung. Grell leuchten die Neonröhren der Bühnenumrandung; ihr Licht ist so gleissend, dass man unwillkürlich die Augen zukneift. Das Publikum darf es am eigenen Leib spüren: Ja, der Sandmann ist da, jene Figur, die so viele Gesichter hat – vom herzigen Plüschmännchen, das allabendlich vom Flimmerschirm aus Schlafsand in Kinderaugen streut bis hin zur gruseligen Schauerfigur, die in E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Novelle den jungen Nathanael in den Wahnsinn treibt.

Was bei der Uraufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis neuer Oper am Theater Basel auf diese Eröffnungsattacke folgt, ist eine rasante Geschichte um Traum und Wirklichkeit, um Traumata, die zum Wahnsinn führen, um sexuelles Begehren und die Frage, was denn Liebe sei. Thomas Jonigk schrieb das Libretto dazu, frei nach E.T.A. Hoffmanns «Sandmann».

Modern, aber komplex

Auch bei Jonigk heisst der Sandmann Coppelius; es gibt ebenfalls den Vater, den Sohn Nathanael, die Freundin Clara. Den Kern der Hofmannschen Geschichte behält Jonigk bei. Doch alles, was angestaubt, gar zu romantisch wirkt, hat Jonigk gestrichen, zugunsten eines modernen Sprachgestus mit kurzen Sätzen, humorigen Anklängen, manchen Plattitüden. Knackig und temporeich ist der Text, gut verständlich in jeder Szene, in der Gesamtanlage aber verwirrend komplex.

Das dichte Beziehungsgeflecht der Figuren bildet Jonigk auch auf der Handlungsebene ab und spitzt es zu; im Verlauf der Oper weiss man immer weniger, wessen Verhalten welche Reaktion bedingt. Ein subtiles Spiel mit Ebenen und Perspektiven: Realität und Fiktion wechseln einander ab, überlagern sich, verknoten sich, bis sie nicht mehr auseinander zu halten sind. Das ist spannend und unterhaltsam zugleich – auch dank der treffenden Inszenierung von Christof Loy, die auf Theaterklamauk verzichtet und ganz auf die Wirkung der Figuren setzt.

«Ja. Ach so.»

Loy lässt die Geschichte auf einer niedrigen, pechschwarzen Bühne (Barbara Pral) spielen. Es ist die Studierstube Nathanaels; im Zentrum ein kleiner Holztisch samt Schreibmaschine, mit einer Mauer aus Büchern: Nathanaels Roman «Der Sandmann», ein Bestseller, hundertfach aufgetürmt. Hier, im Schreiben, verarbeitet Nathanael (Ryan McKinny mit sonorem, äusserst wandlungsfähigem Bariton) seine traumatische Kindheit, beschwört die Erlebnisse immer wieder herauf. Seine Partnerin Clara (mit herrlich warmen, schillerndem Sopran: Agneta Eichenholz) zweifelt an seinem Talent, attestiert ihm eine pathologische Psychose. Clara ist drum flugs vergessen, als Nathanael Clarissa (ebenfalls Agneta Eichenholz) kennenlernt, die Automatin, die auf jede Ansprache mit trällerndem «Ja. Ach so.» antwortet. Geschaffen wurde sie von Nathanaels Vater (mit kernigem Tenor: Thomas Piffka), der eigentlich tot ist, und dennoch permanent in Nathanaels Leben herumgeistert; in Kooperation mit Coppelius (Hans Schöpflin mit herrlich hinterlistigem Tenor), dem Sandmann.

Dieser Sandmann streut Sand, sogar goldenen. Aber er schiesst auch, nicht nur einmal. Er tötet, wenn auch nur im Traum. Er erschafft weitere menschliche Automaten, optimiert ihre Programmierung, entreisst ihnen Gedärme in Form von Elektrokabeln, lässt sie in dutzender Verdoppelung auflaufen – ein wunderbar inszeniertes Bild, wie der Chor des Theater Basel heftig schnatternd die Bühne flutet, die Damen in roten Abendkleidern, die Herren im eleganten Zweiteiler (Kostüme: Ursula Renzenbrink).

Warmer Applaus

Scartazzinis Musik – prägnant gespielt vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Tomáš Hanus – ist moderne Theatermusik im besten Sinne. Sie ist dicht, verwoben, meist laut und selten leise, sie ist temporeich und scheut den Affekt nicht, sie ist farbig, aber nicht bunt, sie mischt geschickt die Instrumente und setzt deren verschiedene Charaktere subtil und manchmal auch recht vordergründig ein. Sie lässt die Sänger meist mit einem singenden Sprechen, einem sprechenden Singen agieren, das die Tonhöhen nur ungefähr angibt. Das passt grossartig zur atonalen Anlage der Orchestermusik, die in Kitschmomenten auch schon mal mit schönen Dreiklängen aufwartet.

Warmer Applaus ganz ohne Gegenstimmen für eine Uraufführung, die zeigt, was zeitgenössische Oper alles kann. Es müssen nicht immer abstrakte Konstrukte sein; man kann auch einfach mal eine gute Geschichte erzählen. Das ist hier nicht zuletzt dank all der grossartigen Darsteller aufs beste gelungen.

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